Mit dem Abend kam die Stunde der Trennung. Zu Hause zog sich jeder mutlos in sein Zimmer zurück.
Bei Sonnenuntergang befand sich die ganze Familie Gentile an der Haustür und verabschiedete sich vom Erstgeborenen. Michele begab sich alleine zum Bahnhof und wollte diesen Abschied schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie es ein wahrer Mann tut: keine Umarmung, kein Streicheln, ausschließlich eine Geste der Stärke.
Die Mutter weinte verzweifelte Tränen als ihr erstes Kind (ihr Liebstes) ausflog, um seinem großen Schicksal zu folgen.
Elena hatte aufgehört zu weinen. Aber der Blick, mit dem sie ihren Bruder anschaute, war vielsagender als alle Worte. Augen sind nicht in der Lage, Gefühle, Liebe und Schmerz zu verbergen.
Dann umarmten sie sich und Elena steckte ihm heimlich ein kleines Baumwolltaschentuch in seine Jackentasche, das ihre Initialen aufgestickt hatte. Vielleicht befürchtete ein Teil von ihr, dass Michele seine Schwester vergaß, die ihn innig liebte.
Als Michele verschwunden war und sich die Tür schloss, fühlte sich Elena elend. Ihr Vater bedachte sie mit einem finsteren Blick und sie verspürte zum ersten Mal Angst: Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Es gab niemanden mehr, der Fäuste zäumte, während er sie ohrfeigte.
Aber Michele musste gehen. Michele musste seinem Traum und seinem großen Herzen folgen. Er konnte nicht ewig bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.
Während sich Elena langsam Mut machte, fühlte sich Michele verräterisch, weil er Elena zurückgelassen hatte, auch wenn sie jetzt keine kleine Schwester mehr war. Er hatte sie mit zwei Personen zurückgelassen, die nie begriffen haben, was für eine besondere Person sie war.
Aber er musste gehen: Vielleicht kann er mit seinen zukünftigen Taten Personen zum Nachdenken bringen, sie verbessern und ihnen helfen, eine vereinte Familie zu werden, wie diese Familie es nie gewesen ist.
Am Bahnhof angekommen, stellte er seinen Koffer auf dem Boden ab. Voller Zweifel richtete er seine Augen gen Himmel, während er seine Hände in die Taschen vergrub. Plötzlich spürte er mit der rechten Hand etwas Sanftes. Verwundert zog er ein weißes Taschentuch hervor, auf dem von Hand zwei kleine Buchstaben und eine lila Blume gestickt waren.
E. G.
Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sein Herz: Vielleicht hätte er zurückkehren und seine Zukunftsträume aufgeben sollen, um seine Schwester zu beschützen. Aber der Zug kam und er stieg ein, bevor er seine Meinung änderte.
In dieser Nacht konnte Elena nicht schlafen. Körper und Geist waren damit beschäftigt, ihr Alleinsein zu verarbeiten, die sie fortan erwartete. Sekunde um Sekunde saugte sie das Voranschreiten des Lebens auf, sowie das Ende dessen, was eine ihrer wunderbarsten Zeiten gewesen war. Sie hatte sie zusammen mit dem besten Bruder verbracht, den Gott ihr schenken konnte.
Aber jetzt war alles vorbei. Er war gegangen und Elena wusste genau, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholte - niemals. Alles war vorbei und dies war das Ende dieser paradiesischen Zeit mit ihm.
Hätte sie geahnt, dass Micheles Trennung der Beginn ihres wahren Lebens war ... sowie ihres wahren Todes?
nueve
Es verging eine Woche bis sich die beiden jungen Menschen wiedersahen. Beide waren froh, über den Abstand.
Chiara teilte man mit, dass José bis spät in den Feldern arbeiten musste, da die Jahreszeit günstig war, um die Sommerkulturen zu pflanzen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Unterrichtsstunde alleine zu verbringen. Sie las oder ging anderen Aufgaben im Kloster nach, die aber aus keinen besondere Pflichten bestanden.
Im Laufe der Woche hatte sie genügend Zeit darüber nachzudenken, was sie in den vergangenen Tagen so nervös gemacht hat. Sie konnte keine Antwort finden: Einerseits war ihr Gehirn nicht in der Lage, einzugestehen, dass es Josés Gegenwart war, andererseits wusste das Herz, was es mitzuteilen hatte. Doch Chiara schenkte ihm keine Aufmerksamkeit.
Die einfachsten Antworten sprechen eine schwierige Sprache.
Einige Tage später fühlte sie beim Erblicken von José während dem Angelusgebet in ihrer Brust einen Stich und sie verstand endlich was beziehungsweise wer es war, der sie aufwühlte.
Was wenn José kein guter Mensch ist, wie sie von ihm dachte? Was wenn er ein böser Mensch ist? Warum sonst fühlte sie sich in seiner Gegenwart derart eigenartig?
Chiara dachte nach und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Ihre Mutmaßung hielt nur kurz an. Wenig später fühlte sie sich mies, solche Gedanken über ihn zu haben. Es war unmöglich.
Nein, José ist ein guter Mensch.
Es war schwer zu sagen, ob es wahre Intuition oder echte Liebe war. Tatsache war, dass Chiara José anders sah, als ihr Verstand vorgab. Vielleicht vertrauen wir aus diesem Grund einer Person, obwohl wir sie erst seit Kurzem kennen.
„ Schlecht erwidertes Vertrauen verletzt wie ein Sturz auf steinigem Boden“, gab ihr ihre Mutter als Lebensweisheit mit auf den Weg. „Ein Sturz auf die nackten Knie ist empfindlich wie der Kampf des Lebens. Deshalb Chiara, sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst!“
Chiara wusste nicht warum, aber bei José hatte sie sofort beschlossen, das Risiko einer Enttäuschung in Kauf zu nehmen.
An diesem Abend schaute sie ihn an. José bemerkte sie nicht oder zumindest tat er, als würde er sie nicht sehen. Das kränkte Chiara: Sie war über sein offensichtliches Verhalten enttäuscht. Beim Einschlafen versuchte sie einen plausiblen Grund für Josés Verhalten zu finden.
‚ Warum hat getan, als würde er mich nicht sehen?‘, dachte sie. ‚ Ist er gekränkt, weil ich neulich weggegangen bin? Hat er mich falsch verstanden? Guter Gott, was denkt er von mir?‘
‚ Er ist unvergleichlich attraktiv, intelligent ... Nein! Was habe ich für Gedanken?
Wie naiv von mir! Ich muss mich über solche Gedanken nicht sorgen, sie entstehen durch eine Liebe, die ich für jedes Geschöpf Gottes empfinde.
Ja, José ist attraktiv und hell wie die Sonne.‘
Chiara brauchte eine Stunde bis sie endlich einschlief. In diesen meditierenden Stunden fragte sie sich kein einziges Mal, warum sie so oft José dachte.
Am fünften Morgen ihrer Distanz verspürte sie eine seltsame Sehnsucht nach dem Unterricht, den sie José Velasco erteilte. Es war eine neue Erfahrung.
‚ Ein Hauch neuer Luft - Das ist der Grund, der einen seltsamen Knoten in mir verursacht.‘
Auf der anderen Seite empfand José die vorübergehende Distanz ebenfalls als therapeutisch.
Bei Schwester Chiara, wie die anderen Ordensschwestern sie nannten, fühlte er sich machtlos. Diese ehrlichen Augen schüchterten ihn ein und ließen ihn bei seiner Suche nach dem Schlüssel in der Klosterbibliothek schuldig fühlen (welch verschwendete Zeit Gewissensbisse sind).
Vielleicht war dies der Grund, warum er abends