„ Nos conocemos viel zu wenig. Woher willst du wissen, dass ich gewöhnlich gesprächiger oder schweigsamer bin?“
Josés Stimme war nicht unhöflich, sie war eher scherzhaft als ernst. Trotzdem fürchtete Chiara, ihn gereizt zu haben, zumal ihr Interesse für eine Nonne wenig angemessen war.
„Entschuldige bitte“, erwiderte sie und senkte den Blick auf das Italienischbuch. „Du hast Recht, ich kenne dich nicht ausreichend, um deinen Charakter zu kennen.“
Bei diesen Worten fühlte sich José gedemütigt. Das Letzte, was er beabsichtigte, war die junge Nonne zu kränken, die so nett zu ihm war.
Vielleicht hätte er es nicht sagen sollen und den Regeln folgen, die hier galten. Jedoch konnte sie sich ihrem Anblick nicht entziehen, die ein enttäuschtes Gesicht machte. Ohne einen Moment nachzudenken, legte er seine Hand auf die von Chiara und drückte sie zärtlich. Sie war klein und zart, so dass sie perfekt in seine Handfläche passte.
„ Yo muss mich entschuldigen, Chiara“, sagte er ernst. „Ich wollte nicht parecerte unhöflich erscheinen, das war nicht meine Absicht“, bat er um Verzeihung.
Chiara schwieg. Das Einzige, was in diesem Moment ihren Körper und Geist beschäftigte, war die Josés Hand, die groß und stark war und auf ihrer lag. Seine Berührung ließ sie vergessen, warum sie sich bis vor kurzem gedemütigt fühlte.
Eine plötzliche Hitze durchwanderte von der Hand zum Arm, um dann durch ihren Körper zu gleiten. Ein seltsames neues Gefühl überkam sie.
‚ Diese Wärme entsteht aufgrund einer Beziehung zwischen zwei Christen‚ denn der Körperkontakt vereint sie zum Glauben Gottes.‘, Dies war ihre mystische Erklärung für das überraschende Empfinden.
Anders konnte sie sich diese Raserei gemischt mit einer seltsamen Ruhe nicht erklären, die sie in diesem Moment verspürte.
‚ In meinem Klosterleben habe ich wenig Körperkontakt mit Menschen gehabt‘, fuhr sie geistig fort, ‚ deshalb ist dieses impulsive Gefühl fremd für mich. In der Tat rät die Religion von ihm ab: Er ist von heftiger Wirkung.
Während Chiara ihre Gefühle zu deuten versuchte, folgte José mit seinen Augen ihrem verwirrten Blick zu ihren Händen, die aufeinander liegend verharrten. Klösterliches Gelübde oder Seemannsleben, der Unterschied spielte keine Rolle: Auch für den jungen Spanier war es beunruhigend, seine Hand mit der Hand einer monja vereint zu sehen.
‚ Was zum Teufel machst du, José Velasco?‘ – ‚Nein, du dürftest nicht den geringsten Drang verspüren, sie berühren zu wollen.‘
„Entschuldige“, sagte er und löste ihren Kontakt auf.
Chiara errötete und starrte auf die Tischplatte. Ruckartig schlug sie das Italienischbuch zu und stand ebenso abrupt auf.
„Ich muss gehen“, erwiderte sie und drehte sich mit dem Rücken zu ihm, um zum Ausgang zu gehen. „Wir sehen uns morgen.“
Sie ließ José keine Zeit, ihr zu antworten, als sie verschwand.
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Hinter einem Regal in der Bibliothek verborgen hatte sie zufällig die Szene miterlebt während sie nach einem Band vom Alten Testament suchte. Der Scham und die Spannungen von Chiara und José blieben hingegen ungeteilt. Sie war einfühlsam und bemerkte die Anziehung zwischen den beiden sofort, obwohl diese es selbst noch nicht verstanden hatten.
Chiara war zu fromm, um sich ernsthaft in jemanden zu verlieben. Andererseits war es normal für eine junge Frau wie sie, sich gegenüber einem jungen Mann wie José Velasco verlegen zu fühlen. Sie war der Auffassung, dass die Liebe Gottes stärker war als jede menschliche Anziehungskraft und sah keinen Grund zur Beunruhigung.
Hinsichtlich José war es normal, dass Chiaras Anmut ihn verwirrte: Sie war ausgesprochen hübsch. Ihre schwierige Naivität würde ihn aber bald langweilen.
‚ Männer wie er sind alle gleich. Sie empfinden einen kurzlebigen Reiz‘, dachte sie seufzend, ‚ obwohl sie verliebt sind, vergessen sie bald ihre Gefühle.‘
Das Beste war, die beiden für ein paar Tage zu trennen. Auf diese Weise konnten sie alles überdenken, um auf den rechten Weg zurückzukehren bevor sie abkommen konnten.
Aus ihrer Ecke der Bibliothek sah sie Chiara verschwinden. Sie hielt ihr Lehrbuch an die Brust als wäre es ein Schutzschild, das sie vor der unmöglichen Liebe schützen sollte. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf und schloss ihre Augen, um sich an ihre zerronnene Jugend zu erinnern.
Abstand
Der Tag, der verfluchte Tag war gekommen. Elena erhob sich ungern aus ihrem Bett, als würde sie an diesem Tag, dem 20. September, auf dem Dorfplatz am Galgen hingerichtet.
‚Ja, ich bin zu melodramatisch‘, dachte sie.
Dieser Tag war aber überaus abscheulich: Ihr Bruder würde von zu Hause weggehen und sie würde alleine zurückbleiben.
Sie stieg aus dem Bett und ging zur Küche im Erdgeschoss. Vor der Küchentür fiel ihr Augenmerk auf das Abbild, welches sich ihr im Spiegel bot - das einer jungen Frau im Morgenmantel.
Sie war erst sechzehn Jahre alt, in Kürze siebzehn, aber ihr Körper glich nicht im Geringsten dem eines kleinen Mädchens, sondern dem einer attraktiven Frau. Unter dem bescheidenen, keuschen Leinengewand zeichneten sich ihre weiblichen Formen ab, welche die Jungen im Dorf ihr nachschauen ließen: geschmeidig und weich im Kontrast zur Einfachheit des Gewebes.
Elenas Gewissen wurde von ihrer Mutter diktiert: „Wenn ich wie gewöhnlich im Morgenmantel zum Frühstück erscheine entfache ich sicherlich Mamas religiöse Empörung und Anti-Sünde.“ Überlegt drehte sich Elena um und zog sich ein weites, dunkles Kleid an, um eine übliche Polemik zu vermeiden.
Im Erdgeschoss warteten Michele und ihre Eltern mit einem letzten gemeinsamen Frühstück auf sie.
Während ihr Vater die Zeitung las, forderte ihre Mutter sie auf, ihr beim Servieren der Milch, dem Kaffee und dem Kuchen für die beiden Herren des Hauses behilflich zu sein.
Mechanisch erledigte Elena ihre Pflichten. Das Fehlen Micheles lag bereits mit einem bedrückenden Schweigen in der Luft. Michele beobachtete sie schuldbewusst und gestand sich ein, wie sehr ihm seine starke und zugleich zerbrechliche Schwester fehlen würde.
Bei einem Spaziergang am Nachmittag animierten sie die Erinnerungen der Orte zum Leben zurück, an denen sie gemeinsam aufgewachsen waren.
Elena schwieg: Sie war traurig und wütend zugleich. Wie konnte Michele sie zurücklassen? Sie -, die stärker war als jede andere Frau, wenn auch nur dank Michele.
„ Sei nicht so Elena!“, verlangte Michele, während er sich auf das Mäuerchen vom Brunnen des Dorfplatzes setzte.
„ Nun lass mich doch“, erwiderte sie widerspenstig.
„ Auf, komm schon!“ Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Elena aber kehrte ihm den Rücken zu. „Ich ziehe nicht in den Krieg, ich gehe studieren.“
„ Das ist das Gleiche, Lele.“
„ Jetzt male nicht den Teufel an die Wand. Lena, du kannst mich besuchen kommen und nach dem Studium kehre ich zurück.“
„ Wann soll das bitte sein?“, fragte sie patzig.
„ Lass mich nicht noch mehr schuldig fühlen als ich bereits bin.“