Ein pragmatisches Herangehen ist auch heute noch ein aktuelles Forschungsverfahren. Eine vollständige soziologisch und psychologisch fundierte pragmatische Darstellung des grammatischen Systems ist seit 50-er Jahren ein angestrebtes Ziel.
1.5.3 Die deutsche Grammatikforschung in der russischen Germanistik
Anfang des 20. Jahrhunderts brachte große Wandlungen im Bereich aller Wissenshaften, einschließlich der Sprachwissenschaft. Die Ideen von Ferdinand de Saussures über den systemhaften Charakter der Sprache und daraus folgende Forderung der synchronischen Sprachbetrachtung werden allgemein. Die Fortschritte der Physik und der Mathematik erhöhen das Ansehen der deduktiven Betrachtungsweise sowie das Streben nach objektiven Forschungsmethoden. In den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts münden diese Ideen in die Lehren verschiedener Schulen des europäischen und amerikanischen Strukturalismus. In Deutschland, wo der Einfluss der Junggrammatiker bis in die 40-er Jahre des 20. Jahrhunderts anhält, machen sich doch neue Strömungen in der Grammatik geltend, Diese Strömungen sind vom Psychologismus, Logismus, von den Ideen der funktionellen Grammatik. gefärbt Alle Strömungen dieser Zeit vereinigen gemeinsame Tendenzen: die Hervorhebung der Syntax als Hauptobjekt der Grammatik und die nur bei der Gegenwartssprache geltende synchronische Betrachtungsweise, das induktive Verfahren (vom Ganzen aus zum Einzelnen); allgemein geltend wird die Forderung in der grammatischen Forschungen von der Form auszugehen.
John Ries mit seinem Werk „Beiträge zur Grundlegung der Syntax“ [45] war erster Vorläufer des grammatischen Strukturalismus in Deutschland. Sein Verdienst ist für die wissenschaftliche Theorie von Syntax sehr bedeutend. Er führte eine neue Abgrenzung von Morphologie und Syntax ein. Als erster hob er den modalen Charakter des Satzes hervor und begründete die Wortgruppenlehre, als selbstständigen Abschnitt der Syntax.
Von J. Ries stammt die Ausgliederung der Wortgruppe, des Wort und des Satzes. Der kommunikativen Satztheorie ist das Buch von Erich Drach gewidmet. „Grundgedanken der deutschen Satzlehre“ [28]. Hauptabsicht des Sprechaktes ist das „Sinnwort“ des Satzes, d.h. das neue, das noch nicht gesagte dem Gesprächspartner mitzuteilen. Drach führte den Begriff „Satzplan“ ein, er schlug Satzpläne des einfachen und zusammengesetzten Satzes vor. Drachs Lehre von Satzplänen wurde von Karl Boost weiter entwickelt.
Zu Beginn der 50-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde der Stand der Gesamtforschung als unbefriedigend bezeichnet. Die Grammatik begnügte sich mit der Aufzählung von Einzelerscheinungen, sie war praxisfern, sie zeigte die inneren Gesetzmäßigkeiten des Systems nicht. In den 50-er Jahren nimmt die Arbeit an theoretischen Problemen raschen Aufschwung. In dem Vordergrund treten die Probleme des Gegenstandes und Ziele der Grammatik, sowie die Probleme der Forschungsmethoden und der Starrheit des Grammatik-Unterrichts. Neue normative Grammatiken befassen sich mit diesen Problemen. Das sind: Hugo Moser „Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik“ [38], Walter Jung „Kleine Grammatik der deutschen Sprache“ [36], Paul Grebe „Der Große Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“ [33], Johannes Erben „Abriss der deutschen Grammatik“ [29], Hennig Brinkmann „Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung“ [24], Wilhelm Schmidt „Grundfragen der deutschen Grammatik“ [47]. Diese Werke sind methodologisch verschieden geprägt, aber es treten hier viele gemeinsame Züge hervor:
1) es sind synchrone Darstellungen der Gegenwartsprache, die kommunikativ orientiert sind;
2) Morphologie und Syntax betrachten diese Gelehrten in enger Verbindung mit einander;
3) jedes Phänomen der Sprache wird sowohl aus seiner äußeren Form heraus, als auch aus der Sicht seiner Bedeutung, Verwendung und kommunikativer Leistung geschildert.
Besonders intensiv wurde die deutsche Grammatikforschung in den 60-er. Jahren . Es sind| neue Gesamtdarstellungen deutscher Gelehrten zu nennen:
– studia grammatica, 1962-69, Leipziger Linguistenkreis, Sammelband.
– die Veröffentlichungen des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache „Sprache der Gegenwart“.
1.5.4 Die deutsche Grammatikforschung in der sowjetischen/russischen Germanistik
Die deutsche Grammatikforschung in der sowjetischen/russischen Germanistik wurde an akademischen Forschungsinstituten, Universitäten und pädagogischen Hochschulen betrieben.
Die ersten bedeutenden Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Grammatikforschung stammen aus den 30-er Jahren. Es sind der Sammelband "Probleme der deutschen Grammatik in historischer Sicht", 1935 herausgegeben von V.H. Shirmunski; "Wissenschaftliche Grammatik der deutschen Sprache" von T.V. Strojewa und L.R. Sinder, 1938; eine Reihe von Monographien (zitiert nach O.I. Moskalskaja [14]).
Der erste wesentliche Charakterzug der sowjetischen Grammatikforschung ist die organische Verbindung von Synchronie und Diachronie. Der 2. Charakterzug ist das Interesse für die inhaltliche Seite der Sprache und die Betrachtung aller grammatischen Erscheinungen aus der Sicht der Einheit von Inhalt und Form.
Besonders großen Aufschwung nehmen germanistische Forschungen in der SU seit den 50-er Jahren. In dieser Zeit erschienen Gesamtdarstellungen des deutschen Sprachbaus solcher Wissenschaftler wie W. Admoni [17], E.W. Gulyga, M.D. Natanson [4], O.I. Moskalskaja [14, 40], umgearbeitete Neuauflage der wissenschaftlichen Grammatik von L.R. Sinder und T.W. Strojewa [10, 50].
Neben den zwei oben genannten Charakterzügen sind für diese Forschungen typisch: die Erschließung der Bedeutung der grammatischen Kategorien, die Verwendung der grammatischen Formen und Mittel; die Erforschung der funktionalen Seite der grammatischen Phänomene.
Insgesamt kann man drei große Themenkreise unterscheiden, die diese u. a. Arbeiten behandeln:
1) Morphologische Studien. Besondere Aufmerksamkeit wird geschenkt: dem Problem der Einteilung der Wortarten im Deutschen, der Erforschung der grammatischen Kategorien der Wortarten, den Kriterien der Ausgliederung der Modalwörter, den Kategorien des Verbs, der Frage über die wortartmäßige Zugehörigkeit des Artikels usw.
2) Die Syntaxforschung bildet den 2. Themenkreis. Die Bedürfnisse des Fremdsprachenunterrichts lenken das Interesse auf die Bedeutung und der Funktionen der einzelnen Satzglieder, einzelner Arten von einfachen und komplexen Sätzen sowie auf die Erforschung und Verwendung von Tempora und Modi im komplexen Satz.
Die Schriften von G. Admoni und seiner Schüler befassen sich mit diesen Fragen. Sie untersuchen die interne Struktur von Wortgruppe und Satz, und zwar, nominale und verbale Wortfügungen und deren Auswirkung auf die Struktur des Satzes. Es handelt sich vor allem um die so genannte Monoflexion als Ausgestaltungsprinzip der Nominalfügung und um die Rahmenstruktur der Verbalfügung. Es sind gerade Mittel einer besonders strengen Organisierung des Satzes im Deutschen. Im selben Buch („Einführung in die Syntax der deutschen Gegenwartssprache“, 1955 [18]) wird zum ersten Mal in der sowjetischen Germanistik der Versuch einer Satzmodellierung gemacht.
3) Den dritten Themenkreis bilden die Fragen, die mit der kommunikativen Gliederung des Satzes und mit deren Ausgestaltungsmitteln Zusammenhängen. Die Arbeit an diesen Problemen wurde durch die Untersuchungen von K.G. Kruschelnitzkaja eingeleitet [12].
Es wurde der Anteil der Stimmführung am Ausdruck des kommunikativen Gehalts des Satzes untersucht sowie der kommunikative Ausdruckswert einiger grammatischen Kategorien, besonders der genera verbi und des Artikels.
Die neuste Zeit wird durch die Erweitung der Themenkreise gekennzeichnet:
1) die Vertiefung des Interesses für die Erschließung der inhaltlichen Seite der Sprache mit Hilfe der neuen exakten Forschungsmethoden (Komponentenanalyse, Transformationsanalyse, interpretierende, strukturelle)
2) das Interesse für die Probleme der Modellierung einfacher und komplexer Sätze (A.W. Wdowitschenko [2], W.G. Admoni[17, 18], W.F. Jegorow [6], E.W. Gulyga [4, 5];
3) die Erforschung der Valenz und der Mehrdeutigkeit von Verben (Abramow, Rachimkulowa);
4) die Erforschung der Wechselwirkung des Lexikalischen und des Grammatischen im Sprachbau (E. Schendels [46]);
5) Untersuchungen im Bereich der stilistischen Grammatik (Charakteristik