„Ja.“
„Schön.“ Steiner zog an seiner Zigarette. „Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuss ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.
Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, dass er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuss fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, dass er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.“
Er machte eine Pause.
„Ihr hattet eben schrecklichen Hunger“, sagte Kern.
„Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: dass neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?“
„Nein“, sagte Kern.
Steiner lächelte. „Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.“
Er stand auf. „Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, dass ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepasst. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Dass ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob[23] ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?“
„Nein.“
„Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.“ Er schlug Kern auf die Schulter. „Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.“
Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. „Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.“
Kern nickte.
„Also mach’s gut. Und vergiss das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne dass man denken muss. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jass und Tarock. Im Poker musst du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.“
„Gut“, sagte Kern. „Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.“
„Dankbarkeit musst du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!“
„Und besser als tot.“
„Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!“
„Servus[24], Steiner!“
Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.
Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.
Kern beschloss zu versuchen, nachts noch bis Pressburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wusste, dass es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.
Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.
3
Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. „Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?“ fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.
„Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.“
„Aha! Kann sein, dass er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?“
„Es geht“, sagte der Mann. „Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.“
Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafkarten bekommen, das wusste er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, dass man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.
„Sie sind dran“, sagte der Mann neben ihm.
Kern sah ihn an. „Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.“
„Gut.“
Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloss abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. „Wie war es?“ fragte er.
„Zehn Tage!“ Der Mann strahlte. „So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muss gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.“
Kern gab sich einen Ruck. „Dann werde ich es auch versuchen.“
Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern. „Emigrant?“
„Ja.“
„Aus Deutschland gekommen?“
„Ja. Heute.“
„Irgendwelche Papiere?“
„Nein.“
Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, dass in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glätten.
Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ärgerlich zu machen. Er presste nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.
Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. „Zehn Tage“, sagte er. „Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie ’raus.“
Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann fasste er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte“, sagte er.
„Das geht nicht. Warum?“
„Ich warte darauf, dass mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muss ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.“
Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch