„Verflucht! In der Zeit ist das Huhn verfault.“ Der Glatzkopf stöhnte. „Mein erstes Poulet[13] seit zwei Jahren. Zusammengespart, Groschen für Groschen. Heute mittag wollte ich es essen.“
„Warten Sie bis heute abend mit Ihrem Schmerz“, sagte Steiner. „Dann können Sie annehmen, Sie hätten es schon gegessen, und Sie haben es leichter.“
„Was? Was reden Sie da für Unsinn?“ Der Mann starrte Steiner aufgewühlt an. „Das soll dasselbe sein, Sie Quatschkopf[14]? Wenn ich es doch nicht gegessen habe? Und außerdem hätte ich mir eine Keule noch für morgen früh aufgehoben.“
„Dann warten Sie bis morgen mittag.“
„Fürr mich das nicht schlimm“, mischte sich der Pole ein. „Esse nie Poulet.“
„Für dich kann’s doch auch nicht schlimm sein. Du hast doch keins gebraten im Koffer liegen“, schimpfte der Mann in der Ecke.
„Auch wenn ich hätte, nicht schlimm! Esse nie derselbe! Vertrage nicht Poulet. Kotze hinterher!“ Der Pole sah sehr zufrieden aus und strählte seinen Bart. „Fürr mich gar nicht schlimm, der Poulet!“
„Mann Gottes, das will ja niemand wissen!“ schrie der Glatzkopf ärgerlich.
„Sogar wenn Poulet hierr – ich demselben nicht essen!“ verkündete der Pole triumphierend.
„Herrgott! Hat man so was schon mal gehört!“ Der Besitzer des Huhns im Koffer drückte verzweifelt die Hände gegen die Augen.
„Mit gebratenen Poulets kann ihm scheinbar nichts passieren“, sagte Steiner. „Unser Jesu Christo ist da immun. Ein Diogenes der Brathühner. Wie ist es denn mit Suppenhuhn?“
„Auch nicht“, erklärte der Pole fest.
„Und Paprikahuhn?“
„Ibberhaupt[15] kein Huhn!“ Der Pole strahlte.
„Ich werde verrückt!“ heulte der gemarterte Besitzer des Poulets.
Steiner drehte sich um. „Und Eier, Jesu Christo? Hühnereier?“
Das Strahlen verschwand. „Eierchen. Ja! Eierchen gärne[16]!“ Ein Schimmer von Sehnsucht umflog den zerrauften Bart. „Särr gärne.“
„Dem Himmel sei Dank! Endlich ein Loch in der Vollkommenheit!“
„Eierchen särr gärne“, beteuerte der Pole. „Vierr Stück, sechs Stück, zwölf Stück, gekocht sechs Stück, andere gebraten. Mit Bratkartoffelchens. Bratkartoffelchens mit Speck.“
„Ich kann das nicht mehr mit anhören! Schlagt ihn ans Kreuz, den gefräßigen Christus!“ tobte das Huhn im Koffer.
„Meine Herren“, sagte eine warme Bassstimme mit russischem Akzent, „wozu so viel Aufregung um eine Illusion. Ich habe eine Flasche Wodka mit durchgebracht. Darf ich anbieten? Wodka wärmt das Herz und beruhigt das Gemüt.“
Der Russe entkorkte die Flasche, trank und reichte sie Steiner. Der nahm einen Schluck und gab sie an Kern weiter. Kern schüttelte den Kopf.
„Trink, Baby“, sagte Steiner. „Gehört dazu. Musst es lernen.“
„Wodka särr gutt!“ bestätigte der Pole.
Kern nahm einen Schluck und gab die Flasche an den Polen, der sie mit geübtem Griff in die Gurgel schwenkte.
„Er säuft sie aus, der Eierfetischist!“ knurrte der Mann mit dem Poulet und entriss ihm die Flasche. „Es ist nicht mehr viel drin“, sagte er bedauernd zu dem Russen, nachdem er getrunken hatte.
Der wehrte ab. „Macht nichts. Ich komme spätestens heute abend ’raus.“
„Sind Sie dessen so sicher?“ fragte Steiner.
Der Russe machte eine kleine Verbeugung. „Leider, möchte ich fast sagen. Ich besitze als Russe einen Nansenpass[17].“
„Nansenpass!“ wiederholte das Poulet ehrfürchtig. „Da gehören Sie natürlich zur Aristokratie der Vaterlandslosen.“
„Es tut mir leid, dass es bei Ihnen noch nicht soweit ist“, sagte der Russe höflich.
„Sie hatten den Vorrang“, erwiderte Steiner. „Sie waren die ersten. Sie hatten das große Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lästig und unerwünscht.“
Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. „Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.“
„Danke“, sagte der Mann ablehnend. „Ich gehöre nicht zu Ihnen.“
Alle sahen ihn an.
„Ich besitze einen gültigen Pass, ein Vaterland. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.“
Alle schwiegen. „Verzeihen Sie die Frage“, sagte der Russe nach einer Weile zögernd, „weshalb sind Sie denn dann hier?“
„Wegen meines Berufes“, erwiderte der Mann hochmütig. „Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.“
Mittags gab es dünne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hieß es diesmal Kaffee, und es gab ein Stück Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tür. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. „Ich werde in vierzehn Tagen ins Café Sperler schauen“, sagte er zu Steiner. „Vielleicht sind Sie dann schon dort und ich weiß schon etwas. Auf Wiedersehen!“
Um acht Uhr war der Vollbürger und Falschspieler reif für den Anschluss. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dämmerung und die glühenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzählte, dass man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup[18] gemacht habe. Er glaube nicht, dass man etwas fände. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.
Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezündet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichhölzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, flakkerndes Licht.
Der Pole, das Poulet und Steiner rückten heran. „Spielen ohne Geld, nicht wahr?“ sagte das Poulet.
„Selbstverständlich.“ Der Falschspieler lächelte.
„Spielst du nicht mit?“ fragte Steiner Kern.
„Ich kann nicht Karten spielen.“
„Musst du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?“
„Morgen. Heute nicht.“
Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. „Ist was los mit dir?“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein. Nur etwas müde. Lege mich auf die Pritsche da.“
Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinanderschießen zu lassen.
„Wer gibt?“ fragte das Poulet.
Der Vollbürger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein As.
Der Falschspieler sah kurz auf. „Stechen.“
Er zog. Wieder ein As. Er lächelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlässig die unterste Karte des Spiels auf – das Kreuz-As.
„So ein Zufall!“ Das Poulet lachte.
Der Falschspieler lachte nicht. „Woher kennen Sie den Trick?“ fragte er Steiner betroffen.