Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария Ремарк. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Эрих Мария Ремарк
Издательство: КАРО
Серия: Moderne Prosa
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 2017
isbn: 978-5-9925-0650-1
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erklärte sie pathetisch.

      „Wie schön! Das wollte ich immer schon mal sein! Jemandes Untergang! Sie sind eine romantische Natur, Luischen!“ Steiner sah sich um. „Gibt es noch ein bisschen Kaffee? Und einen Schnaps?“

      „Kaffee? Und Schnaps?“

      „Ja, Luischen! Ich wusste, dass Sie mich verstehen würden. Eine so hübsche Frau! Ist da noch der Sliwowitz im Wandschrank?“

      Die Wirtin blickte ihn ratlos an. „Ja, natürlich“, sagte sie dann.

      „Genau das Richtige!“ Steiner nahm die Flasche und zwei Gläser heraus. „Nehmen Sie auch einen?“

      „Ich?“

      „Ja, Sie! Wer sonst?“

      „Nein.“

      „Doch, Luischen! Tun Sie mir den Gefallen. Allein trinken hat was Herzloses. Hier…“ Er füllte das Glas und hielt es ihr hin.

      Die Wirtin zögerte. Dann nahm sie das Glas. „Gut, meinetwegen! Aber Sie werden nicht hier wohnen, nicht wahr?“

      „Nur ein paar Tage“, sagte Steiner beruhigend, „nicht länger als ein paar Tage. Sie bringen mir Glück. Ich habe was vor.“ Er lächelte. „Und nun den Kaffee, Luischen!“

      „Kaffee? Ich habe keinen Kaffee hier.“

      „Doch, Kind. Da drüben steht er ja. Ich wette, dass er gut ist.“

      Die Wirtin lachte ärgerlich. „Sie sind schon einer! Ich heiße übrigens nicht Luise. Ich heiße Therese.“

      „Therese ist ein Traum!“

      Die Wirtin holte ihm den Kaffee. „Da sind noch die Sachen vom alten Seligmann hier“, sagte sie und zeigte auf einen Koffer. „Was soll ich nur mit denen machen?“

      „War das der Jude mit dem grauen Bart?“

      Die Wirtin nickte. „Er ist tot, das habe ich gehört. Mehr nicht…“

      „Das ist auch schon genug für einen einzelnen Menschen. Wissen Sie nicht, wo seine Kinder sind?“

      „Wie soll ich das wissen? Darum kann ich mich doch nicht auch noch kümmern! —“

      „Das ist wahr.“ Steiner zog den Koffer heran und öffnete ihn. Eine Anzahl Garnrollen mit verschiedenfarbenem Zwirn fiel heraus. Darunter lag sauber verpackt ein Paket Schnürriemen. Dann kamen ein Anzug, ein Paar Schuhe, ein hebräisches Buch, etwas Wäsche, ein paar Bogen mit Hornknöpfen, ein kleines Ledersäckchen mit Einschillingstücken, zwei Gebetsriemen und ein weißer Gebetsmantel, in Seidenpapier eingewickelt.

      „Nicht viel für ein ganzes Leben, was, Therese?“ sagte Steiner.

      „Manche haben noch weniger.“

      „Auch richtig.“ Steiner untersuchte das hebräische Buch und fand zwischen den inneren Umschlagseiten einen Zettel eingeklemmt. Vorsichtig zog er ihn heraus. Er enthielt eine mit Tinte geschriebene Adresse. „Aha! Da werde ich mal nachfragen.“ Steiner stand auf. „Danke für den Kaffee und den Sliwowitz, Therese. Ich komme spät heute. Am besten quartieren Sie mich parterre nach dem Hof zu ein. Da kann ich dann rasch hinaus.“

      Die Wirtin wollte noch etwas sagen. Aber Steiner hob die Hand. „Nein, nein, Therese! Wenn die Tür nicht offen ist, komme ich mit der gesamten Wiener Polizei. Aber ich bin sicher, sie wird offen sein! Die Heimatlosen beherbergen ist ein Gebot Gottes. Dafür gibt es tausend Jahre größter Glückseligkeit im Himmel. Meinen Rucksack lasse ich schon hier.“

      Er ging. Er wusste, dass es zwecklos war, das Gespräch fortzusetzen, und er kannte die merkwürdig eindringliche Wirkung zurückgelassener Sachen auf bürgerliche Menschen. Sein Rucksack würde ein besserer Quartiermeister für ihn sein als alle weiteren Überredungsversuche. Er würde die letzten Widerstände der Wirtin durch sein stummes Vorhandensein besiegen.

* * *

      Steiner ging zum Café Sperler. Er wollte den Russen Tschernikoff treffen. Sie hatten während der Haft verabredet, am ersten und zweiten Tag der Freilassung Steiners nach Mitternacht dort aufeinander zu warten. Die Russen hatten als Staatenlose fünfzehn Jahre Praxis mehr als die Deutschen. Tschernikoff hatte Steiner versprochen, nachzuforschen, ob in Wien falsche Papiere zu kaufen seien.

      Steiner setzte sich an einen Tisch. Er wollte etwas zu trinken bestellen; aber kein Kellner kümmerte sich um ihn. Es war nicht üblich, dass man etwas bestellen musste; die meisten hatten kein Geld dafür.

      Das Lokal war die typische Emigrantenbörse. Es war voll von Menschen. Viele saßen auf den Bänken und Stühlen und schliefen; andere lagen auf dem Fußboden, die Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie nutzten die Zeit aus, umsonst zu schlafen, bis das Café wieder geöffnet wurde. Es waren meistens Intellektuelle. Sie konnten sich am wenigsten zurechtfinden.

      Ein Mann in einem karierten Anzug mit einem Vollmondgesicht setzte sich neben Steiner. Er beobachtete ihn eine Weile mit flinken, schwarzen Augen. „Was zu verkaufen?“ fragte er dann. „Schmuck? Auch alten? Ich zahle bar.“

      Steiner schüttelte den Kopf.

      „Anzüge? Wäsche? Schuhe?“ Der Mann blickte ihn dringlich an. „Einen Trauring vielleicht?“

      „Schieb ab, du Aasgeier“, knurrte Steiner. Er hasste die Händler, die den ratlosen Emigranten ihre wenigen Sachen für ein paar Groschen abjagen wollten.

      Er rief einen vorüberhuschenden Kellner an. „Hallo! Einen Kognak!“

      Der Kellner warf einen zweifelnden Blick auf ihn und kam heran. „Sagten Sie Anwalt? Heute sind zwei da. Drüben in der Ecke Rechtsanwalt Silber vom Kammergericht Berlin; ein Schilling die Beratung. Am runden Tisch neben der Tür Landgerichtsrat Epstein aus München; fünfzig Groschen die Konsultation. Unter uns: Silber ist besser.

      „Ich will keinen Anwalt, ich will Kognak“, sagte Steiner.

      Der Kellner hielt die Hand ans Ohr. „Habe ich recht verstanden? Einen Kognak?“

      „Ja. Ein Getränk, das besser wird, wenn die Gläser nicht zu klein sind.“

      „Sehr wohl. Verzeihen Sie, ich bin etwas schwerhörig. Und dann bin ich es nicht mehr gewohnt. Hier wird fast nur Kaffee verlangt.“

      „Gut. Dann bringen Sie den Kognak in einer Kaffeetasse.“

      Der Kellner holte den Kognak und blieb am Tisch stehen. „Was ist los?“ fragte Steiner. „Wollen Sie zusehen, wie ich trinke?“

      „Es muss vorher gezahlt werden. Das geht hier nicht anders. Wir würden sonst pleite[25] gehen.“

      „Ach so, richtig!“

      Steiner zahlte. „Das ist zuviel“, sagte der Kellner.

      „Was zuviel ist, ist Ihr Trinkgeld.“

      „Trinkgeld?“ Der Kellner schmeckte das Wort förmlich ab. „Mein Gott“, sagte er dann gerührt. „Das ist das erste seit Jahren hier. Danke vielmals, mein Herr! Da fühlt man sich ja direkt wieder einmal als Mensch!“

      Ein paar Minuten später kam der Russe durch die Tür. Er sah Steiner sofort und setzte sich zu ihm.

      „Ich dachte schon, Sie wären nicht mehr in Wien, Tschernikoff.“

      Der Russe lachte. „Bei uns ist das Wahrscheinliche immer unwahrscheinlich. Ich habe alles herausbekommen, was Sie wissen wollen.“

      Steiner trank seinen Kognak aus. „Gibt es Papiere?“

      „Ja. Sehr gute sogar. Das Beste, was ich an Fälschungen seit langem gesehen habe.“

      „Ich muss ’raus!“ sagte Steiner. „Ich muss Papiere haben! Lieber mit einem falschen Pass Zuchthaus riskieren als diese tägliche Sorge und Einsperrerei. Was haben Sie gesehen?“

      „Ich war in der Hellebarde. Da verkehren die Leute jetzt. Es sind dieselben wie vor sieben Jahren. Sie sind in ihrer Art zuverlässig. Das billigste Papier kostet allerdings vierhundert Schilling.“

      „Was gibt es dafür?“

      „Den


<p>25</p>

pleite – ohne Geld, sodass die Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können – bankrott