Unsere Wartezeit im Hafen war vorbei und wir bugsierten die Konstanze zum großen Neuen Kran, um die Kanonen an Bord zu nehmen. Nun erkannte ich die halbe Familie, die sich dazu eingefunden hatte. Wir begrüßten uns herzlich und mir wurde klar, beim nächsten Betreten des Schiffes würde der Verbleib länger ausfallen.
Lisa strahlte mich an, als ob ich von einer großen Reise heim gekommen wäre. Konstanze und Hinrich sahen beide glücklich aus, die gestrige Verlobung machte es nicht mehr nötig, dass Hinrich nochmals das Hospital aufsuchte. Das war Medizin genug. Ihm ging es wieder gut. Mein Vater und Onkel Clemens sprachen zwischenzeitlich mit dem Kapitän Broder. Sorgenvolle Gesichter von Vater und Onkel Clemens lösten sich in Wohlgefallen auf, als Kapitän Broder und Jan Behrens ihre Eindrücke schilderten. Tante Nathalie, so hörte ich von Lisa, war es hier zu laut und zu anstrengend, um hier zu warten. Sie hatte mit ihrem Kind unter dem Herzen in Hamburg anstrengende Tage erlebt und wollte sich, bis zum großen Abschiedsessen ein wenig ausruhen. Meine Mutter leistete ihr Gesellschaft und Josephine bereitete das Mahl vor. Ich freute mich auf dieses Ereignis, denn die Seemannskost in den nächsten Wochen, hatte schon so manchen Matrosen zur Verzweiflung getrieben. Alfred und Hannes waren die Besatzungsmitglieder, die zur Stadtwache gehörten. Sie sind unter Kapitän Broder die Verantwortlichen für die Bewaffnung und Verteidigung des Schiffes. Ursprünglich waren Walfänger nicht bewaffnet gewesen. Doch Kaperfahrten bis in die Fanggründe und auch feindliche Auseinandersetzungen mit anderen Staaten blieben nicht aus. Die Konvoi -Fahrten Hamburger Kriegsschiffe vergangener Tage, konnten Verluste dieser Art nicht grundsätzlich verhindern. Die Hamburger Handelsflotte war einfach zu groß geworden. Heutzutage fahren Hamburger mit schwedischer Flagge aus Stade oder dänischer Flagge aus Altona, wenn politische Umstände es verlangten. Mein Vater und Onkel Clemens hatten sich für die Hamburger Flagge entschieden. Da Kock & Konsorten eine hamburgisch-französische Gesellschaft war, führte die Konstanze auch die französische Flagge. So ist der große Bruder immer im Gepäck, wenn es erforderlich oder dienlich wurde. Alfred und Hannes überwachten das Beladen der Kanonen und der Munition. Durch die große Luke zwischen Fockmast und Großmast wurden die Geschütze ins Zwischendeck gehievt. Jacob und ich verabschiedeten uns von der Mannschaft und wir gingen ohne Vater und Onkel Clemens nachhause. Ein Gewitter zog auf und wir beschleunigten unser Fortkommen. Die ersten großen Tropfen erreichten uns, als wir von der Mattentwiete in die Katharinenstraße kamen. Es hatte lange nicht geregnet. Die Stadt schien im Staub zu versinken. Aus den Hinterhöfen der Mattentwiete kam uns ein fauler Geruch entgegen. Der Regen wird die Kanäle reinigen und den Mief wegspülen. Wir erreichten unser Haus und der Regen wurde stärker.
„Gerade noch mal Glück gehabt“, sagte Konstanze.
„Was man von Onkel Clemens und Vater nicht sagen kann“, meinte Hinrich. In der großen Diele roch es nach Fisch. Ich bewegte mich zur Küche. Josephine bereitete die Speisen vor. Ich bedankte mich als erstes für den tollen Pullover, den sie heimlich gestrickt hatte. Anerkennend erwähnte ich ihre Mühe, die sie sich mit dem Brief gemacht hatte.
„Zweifel kamen nicht auf, dass du nicht auch mir einen Pullover stricken wolltest. Übrigens, die Änderungen am Pullover sind gelungen. Er passt dank deiner Geschicklichkeit“, sagte ich freudestrahlend.
„Denn kann ich ja auch zufrieden sein, Caspar. So, nun muss ich aber weiter arbeiten, sonst wird das Essen nicht rechtzeitig fertig“, antwortete Josephine und drängte mich zur Tür. Ich schaute noch schnell in die Töpfe und stellte fest, dass es heute Lachs geben wird. Im Kontor und auf den Speichern wurde nur bis mittags gearbeitet. Maria half in der Küche und das restliche Personal konnte sich von dem Stapellauf der Konstanze erholen. Einige hatten die Erholung auch nötig. Besonders jene die versucht hatten, mit den Seeleuten beim Trinken mitzuhalten. Lisa, Konstanze und Hinrich setzten sich zu Tante Nathalie und zu Mutter an den großen Dielentisch. Ich setzte mich schließlich auch dazu. Wir spekulierten, wann Onkel Clemens und Vater wohl nachhause kommen werden. Der Regenguss war noch nicht vorbei. Jacob spannte im Hinterhof die Pferde an und wollte die Beiden abholen. Ich wollte die letzten Stunden mit Lisa verbringen und entschloss mich da zu bleiben.
„Jacob ist vertraut mit der Umgebung und wird sich schon nicht verirren!“, sagte Lisa zustimmend, die meinen Beweggrund verstanden hatte. Tante Nathalie erzählte, dass Onkel Clemens lange überlegt hatte, ob er nicht statt der Neu Orléans- Route lieber die etablierte Quebec- Route fahren sollte. Denn es war seine alleinige Entscheidung gewesen. Es gab für beide Routen Vor- und Nachteile. Er machte es sich deshalb nicht einfach. Mein Onkel legte sich letztlich fest und Tante Nathalie wiederholte seine Begründung Wort für Wort: Für die aufkommende Besiedlung Louisianes und gegen den, in festen Händen liegenden Pelzhandel der Sankt Lorenz-Region, wo die Kompanie erst einmal Fuß fassen müsste. Das Hinterland Louisianes war riesengroß und umspannte fast das Gebiet bis zu den Großen Seen im Norden Amerikas. Entlang dem Lauf des Mississippi Stromes und seiner Nebenarme. Das Klima war günstig für den Anbau von Baumwolle, Indigo, Tabak, Reis, Mais, Kürbis, Weizen und Zuckerrohr. Zusätzlich nahm im Süden die Krabben, Muschel- und Austernfischerei stark zu. Hier gab es viele Chancen den Handel auszuweiten, wenn erst einmal mehr Einwanderer ihren Weg nach Neu Orléans gefunden hätten, so hieß es. Die Stadt war erst 1718 gegründet worden. Da war Geduld oberstes Gebot, doch zurzeit waren die Schiffe der Neu Orléans- Route gut ausgelastet.
Tante Nathalie war mit dem Geschäftsgebaren von Kock & Konsorten vertraut, im Gegensatz zu meiner Mutter, die dafür eine größere Familie zu behüten hatte und gesellschaftlich stärker eingebunden war, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Eine vertraute Geste zu Lisa führte dazu, dass wir nochmals das Haus verließen, nachdem der Regen aufgehört hatte. Ich wollte einfach noch einmal mit ihr allein sein. Wir gingen auf die Katharinenkirche zu, die in Sichtweite unseres Hauses lag. Hier hatte der Blitz nicht gewütet. Lisa wollte gerne mit mir in die Kirche gehen. Sie war ein religiöser Mensch, im Gegensatz zu mir. Ihr gab die Kirche ein Stück Lebenskraft. Sie konnte aus dem Gebet die Kraft schöpfen, die ihr gut tat. Ich hatte das zu respektieren und war immer bereit mitzugehen, wenn Lisa darum bat. Insgeheim bewunderte ich sie, denn Gott konnte sie trösten. Mir war es nie möglich gewesen, das Leid vieler Menschen, die Grausamkeit der Natur und die Ungerechtigkeit auf der Welt, als von Gott gewollt zu begreifen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich diese Dinge jemand ausgedacht hatte.
Das Christentum beflügelte unsere Stadt eindeutig. Beginnend stand zwischen Elbe und Alster ein Kloster, wodurch erst eine Stadt entstehen konnte. Es gab später Armenhäuser, Hospitäler, den Pesthof, Schulen und viele andere gute Errungenschaften der Kirchen. Viele Menschen bekommen den Halt, den sie brauchen um ihr Leben zu bestehen. Jedoch musste immer alles für die Kirchen lenkbar bleiben, egal was sie unternahmen. Die Kontrolle gaben die Kirchen nie in andere Hände und mit dem Adel arrangierte man sich. Heute war wieder so ein Tag, wo es eben sein musste, in die Kirche zu gehen.
Schon, bevor wir die Tür öffneten, war die tönerne Orgel zu hören. Die Musik konnte auch einen Atheisten beeindrucken. Lisa sagte die ganze Zeit kein einziges Wort. Das war sonst eher selten der Fall. Sie bestimmte nun die Abfolge und ich setzte mich neben sie, als wir die blankpolierten Bänke erreicht hatten. Hinter dem Altar hing ein großes Kreuz mit Jesus Christus in der üblichen Darstellung, der Kreuzigung. Lisa schaute Jesus` Abbild an und betete anschließend. Sie rückte ganz nah an mich heran, bis sich unsere Oberschenkel berührten. Ich verharrte in Schweigen und mir wurde klar, dass Lisa auf diese Weise versuchte, für mich mit zu beten. Sie sollte das so machen, wie sie es mochte. Dem Organisten waren einige Notenblätter von der Balustrade gefallen. Es regnete also Papier. Außer mir schien es niemand zu bemerken. Plötzlich verstummte die Orgel und ein zerzauster Kopf schaute von der Empore herunter. Nun sah der Organist was passiert war. Er kam die reich verzierte Wendeltreppe herunter, die um einen gewaltigen Pfeiler geschwungen war. Mir zuckte es in den Beinen. Ich wollte ihm helfen, doch Lisas Gebet dauerte noch an. Alle anderen Besucher beteten ebenfalls, so dass der Organist seine Notenblätter selbst aufheben musste. Als dies geschehen war, erklomm er keuchend die Wendeltreppe. Erst durch die Geräusche