Als Engelhart zum erstenmal wieder ausgehen durfte, fuhr Adele Spanheim mit ihm und den beiden Geschwistern nach Nürnberg zu ihren Eltern. Es war prächtiges Wetter, kristallen wölbte sich der Himmel, die Blätter begannen schon gelb zu werden und hingen glühend an den Bäumen des Stadtgrabens, vieleckig, vieltürmig, mit strahlend roten Dächern erhob sich die Burg und zur Rechten die säulenschlanken Türme von Sankt Sebald. Zwischen dem Henkersteg und dem Weinmarkt traten sie in das düstre Tor eines altertümlichen Hauses, stiegen eine riesenbreite Treppe mit flachen Stufen hinan und schritten oben über eine Holzgalerie mit schön geschnitztem Geländer. Unten war der Hof, es plätscherte Wasser aus dem Brunnen in ein steinernes Becken. In der Wohnstube befanden sich zwei alte Leute und fünf erwachsene junge Männer, Adeles Brüder. Die Kinder wurden in die Ecke des Zimmers an einen kleinen Tisch gesetzt und erhielten Kaffee und Kuchen. Die acht Leute redeten leise miteinander, bisweilen flog ein musternder Blick zu den Kindern herüber. An den Wänden des großen Raums standen hochbeinige Stühle und zwischen den Fenstern hing ein Bild, ein Mädchenkopf mit schwarzen, zur Schulter fallenden Haaren. Der Ausdruck des Gesichts erinnerte Engelhart an Sophie Hellmut, der Blick hatte etwas Zärtliches und Fragendes, und er konnte sein Auge nicht davon wenden. Er stand auf, um das schöne Gesicht näher zu haben, da ertönte vom Kaffeetisch aus, das Wispern durchbrechend, Adele Spanheims Stimme: »Engelhart, sitzen bleiben!« Die Tasse an den Lippen, betrachtete sie ihn erwartungsvoll, auch die fünf Brüder sahen ihn an. Mit verzerrtem Gesicht starrte der Knabe zu Boden, und es wäre vielleicht zu einem Auftritt gekommen, wenn nicht die Ankunft eines neuen Gastes die Aufmerksamkeit des Fräuleins abgelenkt hätte. Diesen Umstand benutzte Engelhart und stahl sich aus dem Zimmer. Draußen lehnte er sich einige Minuten lang über die Galerie und blickte entzückt in das blaue Himmelsviereck; auf der andern Seite konnte er durch eine geöffnete Türe in ein halbdunkles Zimmer sehen, in dessen Mitte ein Aquarium stand; Goldfische blitzten an der Glaswand vorbei, und ein schmaler Sonnenstreifen lag wie ein goldener Stab quer im grünen Wasser.
Die Furcht, entdeckt und geholt zu werden, trieb ihn weiter, auf die Straße, über den Platz zur Sebalderkirche. Zaudernd stand er dort vor einer offenen Seitentüre. Es zog ihn hinein, und doch lähmte ein Unbekanntes seinen Fuß. Frömmigkeit, der Genuß des Wunderglaubens, die Seligkeit des Gebets, alles das war ihm fremd geblieben, aber die Furcht, Gottesfurcht, nicht im biblischen Sinn, behauchte ihn bisweilen wie die Kälte der Winternacht, die durch die Fensterfugen in das erwärmte Zimmer streicht. Und nun der gewaltige Bau, die schwere Dämmerung drinnen, und das Fremde und Steinerne, das den Christen und das Christentum in seinen Augen umgab.
Er ging hinein. Die gewaltigen Pfeiler, die erhabenen Bogen und Gewölbe, wie schräg gefaltete ungeheure Hände nach oben geneigt, das Halblicht, verstärkt und bemalt durch die bunten Glasfenster, die Stille des Ortes und seine ungeheure Raumfülle, dies Emporstrebende, Emporweisende, es machte ihn schaudern bis ins Mark. Als dann die Glocke im Turm zu läuten anfing und ihn die Klänge umschwirrten wie das Flügelschlagen mystischer Wesen, trugen ihn die Beine kaum mehr, er suchte einen Winkel, um sich zu verkriechen, und taumelte vorwärts, bis ein schwarzes Gitter ihn aufhielt. Es war das Sebaldusgrab. Langsam wich die Blindheit von seinen Augen, er gewahrte zahllose kleine Figürchen, lieblich gestaltet, in stiller, vorgesetzter Bewegung, und sein Erstaunen war groß. Das Zittern, das Grauen wich, auf einmal fand er sich heimisch, als hätte er Spiel und Spielgenossen entdeckt, und lange konnte er sich nicht trennen.
Zu spät erinnerte er sich der verflossenen Zeit. Alle Spanheims waren auf der Suche nach ihm. Adele stand im Flur und empfing ihn wortlos, mit eisig kalter Miene. Auch Gerda und Abel behandelten ihn hochmütig, denn sie waren durch seinen Fehltritt in Gnade gekommen. Nach und nach kamen die Brüder Adelens zurück, lachten spöttisch, und einer zwickte den Knaben ins Ohr. Auf der Heimfahrt bewahrte Adele ihre bedeutungsvolle Zurückhaltung, und als er sich zum Schlafengehen anschickte, nahm sie einen Stock, stellte sich an das Bett und genoß seine stumme Angst, seinen flehenden Blick. »Wo warst du, während wir dich gesucht haben?« fragte sie durch die geschlossenen Zähne. Da er nichts antwortete, geriet sie vor Zorn außer sich, packte ihn beim Hemd, und wie er zurückwich, riß das Hemd entzwei. Der Knabe lief nackt gegen das Fenster und, den Leib gegen die Mauer gepreßt, den Arm abwehrend zurückgestreckt, rief er wild: »Schlagen Sie mich nicht!«
In Adele Spanheims Gesicht ging eine wunderliche Veränderung vor. Sie errötete, nahm die Kerze vom Tisch und sagte mit dunklerer, rauherer Stimme, ohne die Augen von der Gestalt des Knaben abzuwenden: »Geh nur schlafen, du … Bub.« Bei diesem zögernd ausgesprochenen Wort lächelte sie. Im Bette liegend, dachte Engelhart an ihr sonderbares Lächeln und schlief in Scham und Traurigkeit ein.
Fünftes Kapitel
Adele Spanheims Herrlichkeit nahm bald ein Ende. Eines Nachmittags betrat Herr Ratgeber wider seine Gewohnheit die Küche und sah, daß Fräulein Adele mit träumerisch aufgerissenen Augen vor einem Topf mit eingemachten Preiselbeeren saß und von Zeit zu Zeit einen Kaffeelöffel voll in den Mund steckte. Gerda und Abel kauerten lüstern dabei, man spürte, wie ihnen der Mund wässerte. Da Herr Ratgeber auch sonst unzufrieden war mit der Leitung des Haushalts, sagte er: jetzt ist es genug, und gab der naschhaften Dame den Laufpaß. Damit gewann die Sorge um die führerlosen Kinder neue Macht.
Herr Ratgeber hatte sich inzwischen mit seinem Bruder Hermann endgültig entzweit. Er war im Begriff, aus dem gemeinsamen Geschäft zu scheiden und eine Fabrik zu gründen; Produzent sein, die Ware gleichsam aus dem Nichts erschaffen, die Hände des Arbeiters unmittelbar in seinen Dienst nehmen, Maschinen in Betrieb setzen und im großen Stil wirtschaften, das war sein Traum. Er hatte es satt, Bänder und Pfeifenspitzen zu verkaufen, wie er sich verächtlich ausdrückte, und um jeden Groschen Verdienst mühevoll schwatzen zu müssen. Nach langen Erwägungen entschloß er sich für die Holzwarenbranche, und da er vorerst nicht viel von der Sache verstand, suchte er sich durch nächtelanges Studieren zu helfen. Aber so stolz seine Pläne waren, es fehlte Herrn Ratgeber an Kapital. Er wandte sich an den reichen Bruder seiner verstorbenen Frau, und da er eine wunderbar überzeugende Art zu schreiben hatte, ließ sich Michael Herz bestimmen, zehntausend Mark herzugeben. Aber damit hatte Herr Ratgeber nicht genug. Er war leidenschaftlich bemüht, seiner Idee unter den bisherigen Geschäftsfreunden geldkräftige Anhänger zu gewinnen, und phantasievoll und tatgierig, wie er war, versprach er einem jeden goldne Berge. Mit weithinaus gerichtetem Blick ging er in dieser Zeit umher, beständig ein Lächeln zwischen den Lippen verhüllend, welches sagen sollte: Laßt mich nur gewähren, laßt mich nur ans Ruder kommen. Er glaubte, die Stunde sei reif, wo er die nacheilenden Schatten seiner bedrückten Jugend in die Flucht schlagen könne, und sagte sich mit stürmischer Entschlossenheit: Es muß sein, muß gelingen. Dieses Muß trieb ihn zeit seines Lebens von Mühsal zu Mühsal und von Mißlingen zu Mißlingen.
Nun gab es einen Mann in der Stadt, der das Treiben des Herrn Ratgeber mit der größten Neugierde verfolgte. Er hieß Teilheimer, hatte brandrote Haare, ein mit Sommersprossen bedecktes Gesicht, und sein Beruf war, über die Angelegenheiten seiner Mitbürger aufs genaueste unterrichtet zu sein. Er saß zum Beispiel im Wirtshaus und summte scheinbar achtlos vor sich hin. Da ging der Weinhändler Strunz am Fenster vorüber. Teilheimer zwinkerte listig mit den Augen und sagte: »Schau, schau, da geht der Strunz zum Bezirksarzt, um seinen fälligen Wechsel einzukassieren; wird ihm aber nichts nutzen, der Mann hat selbst kein Geld und der Schwiegervater gibt nichts mehr her; böse Geschichte.« Oder man redete in einer Gesellschaft über das gesunde Aussehen und die Frische einer schönen Frau, was den roten Teilheimer zu der beiläufigen Bemerkung veranlaßte, daß diese Frau den Krebs in der Leber sitzen habe und daß ihr nur noch ein Jahr und etliche Tage zu leben vergönnt sei.
Dieser magische Seher machte sich auf, um Herrn Ratgeber beizustehen. Eines Tages kam Engelhart von der Schule und stürmte ins Zimmer. Da sah er den Vater am Ofen stehen, den Kopf gebückt, in unbewegliches Nachdenken versunken. Am Tisch ihm gegenüber saß der rote Teilheimer, ein Bein übers andre geschlagen, einen Zigarrenstummel mit vergnüglicher Miene über die Lippen wälzend und einen Bleistift auf ein mit Zahlen beschriebenes Blatt bohrend, als ob er den Speer in die Brust eines Besiegten tauche. Sein Auge blitzte feldherrnhaft, als er dem Knaben mit einer Handbewegung das Zimmer verwies. Am darauffolgenden Nachmittag war es wieder so, nur daß noch Iduna Hopf dabei war; Herr Ratgeber stand wieder vor dem Ofen und schien qualvoll