Die Familie Wahrmann bewohnte ein einstöckiges Haus an der Straße, die vom Tor des Blasturms aus gegen den Wald führte und wenige hundert Meter weiter schon Landstraße wurde. Auf jeder Seite standen etwa ein Dutzend solcher Häuser von ganz gleicher Bauart, und zwischen je zweien war ein kleiner Garten oder Hof. Frau Agathe fand bei der Schwester, was sie vom Leben innig wünschte: Sorglosigkeit. Die Erinnerung an ihre Mädchentage erwachte; hier hatte sie, nachdem der Vater gestorben war, bis zu ihrer Verheiratung gelebt; hier hatte sie manche Nacht durchtanzt, hier hatte sie Herr Ratgeber zum erstenmal erblickt. Nun war sie wieder da, von liebreicher Gastfreundschaft gehegt, und vier Kinder mit ihr als Zeugen der verflossenen Jahre. Ihre gehobene Stimmung wirkte wie ein seelenvolles Leuchten auf die Gemüter der andern Hausbewohner.
Engelhart vertrug sich gut mit den Cousinen. Helene, die älteste, liebte es, ihn zu necken. Nicht seine Gedanken waren vor ihrem Spott sicher. Sie war selten schlecht gelaunt, sie entdeckte mit Scharfblick an jedem Menschen die komische Seite und jeder bot ihr daher unerschöpflichen Stoff zum Lachen. Sie hatte aber auch Respekt für geistige Dinge, für gute Bücher, es war nichts Kleinstädtisches in ihr. Ganz anders Jettchen, die zweite. Sie war eine trübe Träumerin, stets von Unzufriedenheit und zielloser Eifersucht erfüllt. Sie neigte schon als Kind zu einer halb schwärmerischen, halb gottmeisternden Frömmigkeit, und da sie nicht hübsch war, sprach sie gern mit Verachtung von dem eiteln Wesen schöner Mädchen. Die jüngste nun, Esmee, hatte etwas Teuflisches für Engelhart; er fürchtete sie, wenn sie an den Sommerabenden auf der Straße wandelten und sich das Mädchen lächelnd an ihn drängte, ihren Arm in den seinen schob und beim Sprechen ihr Gesicht so nahe wie möglich an das seine brachte. Sie war immer von einem einzigen Zustand vollkommen beherrscht, von Wildheit oder Angst, Müdigkeit oder Begierde. An Regentagen gebärdete sie sich oft, als wolle sie vor Ungeduld die Mauern niederreißen, und im Wald pflegte sie mit schmetternder Stimme zu singen:
»In den Garten wollen wir gehn,
Wo die schönen Rosen stehn,
Stehn der Rosen gar zu viel,
Brech’ ich mir eine, wo ich will.«
Am Anfang des Waldes stand ein Wirtshaus, kurzweg die »Höhe« genannt, und an Sonntagen pilgerte das halbe Städtchen hinauf. Engelhart fand sich dann unbehaglich in dem Menschentrubel, und er schlich davon. Er hatte einen Lieblingsplatz im Wald unter einer alten Eiche; nahebei war ein Ruinenstein der römischen Mauer. So saß er einmal und lauschte auf die Tanzmusik, die von der »Höhe« herüberklang. Da legten sich zwei kleine Hände über seine Augen und eine zarte Stimme wisperte: »Wer bin ich?« Eigensinnig schwieg er still, und als sich Esmee schmollend an seine Seite setzte, herrschte er sie an: »Warum bist du mir denn nachgelaufen?« Sie antwortete nichts, sondern schüttelte heftig ihr lose hängendes Haar. Er verfiel wieder in sein verstocktes Schweigen. Es flogen Glühwürmer auf, hinter dem Weg schimmerte es goldgelb vom Mond, aus dem Westen brummte dumpf der Donner. Plötzlich sprang Esmee auf, packte blitzschnell mit beiden Händen Engelharts Kopf und biß ihn ins Ohr. Er schrie, sie lief davon, ihr Lachen vermischte sich mit dem Rascheln der Zweige, Engelhart eilte ihr nach. Als er in den Wirtsgarten kam, hatten sich die Gäste schon in den Saal geflüchtet, da es zu tröpfeln anfing. Esmee stand auf der obersten Stufe der Terrasse. Sie hatte einen Zipfel ihres Taschentuchs zwischen den Zähnen und riß daran, während sie in den Saal blickte, die Augen in unheimlicher Wildheit funkelnd.
Engelhart trat, mit der Hand das schmerzende Ohr bedeckend, in den Saal und gewahrte unter den ersten Paaren, die sich zum Walzer anschickten, seine Mutter und den Premierleutnant Siderlich. Er erstaunte über ihr Aussehen, über ihre roten Wangen und glänzenden Augen. Ihre Bewegungen hatten etwas Fräuleinhaftes, wenn sie dankte, den Kopf zur Schulter neigte, den Fuß zum Tanz vorsetzte.
Der Premierleutnant Siderlich lag schon seit zehn Jahren mit einer Halbkompagnie im Ort, man sagte, daß es eine ewige Strafversetzung sei. Er wohnte bei Wahrmanns zur Miete, doch gingen diese mit dem Plan um, ihm zu kündigen, da er in der letzten Zeit oft betrunken war. Das gewöhnliche Volk nannte ihn wegen seiner außergewöhnlichen Länge und Magerkeit den Lattenhanni. Er verkehrte mit niemand, hatte weder Kameraden noch Freunde und empfing oder schrieb nie einen Brief. Jeden Abend um acht Uhr ging er ins Gasthaus zur Post und verzehrte dort sein kärgliches Nachtessen. Wenn er fertig war und neben seinem Tisch bekam etwa ein andrer Gast zu essen, so beugte er sich gegen dessen Teller herüber und sagte, mit der Zunge schnalzend, gierig und überrascht: »Ah, das ist aber ein schöner Braten, so einen Braten bekomme ich nie,« oder: »Das ist aber ein kolossaler Fisch, so einen bekomme ich nie.« Hierauf rief er die Kellnerin oder den Wirt und fragte mit trauriger Stimme: »Warum bekomme ich nie eine so große Portion wie der Herr Expeditor?«
»Aber ich bitte, Herr Premier,« sagte der Wirt, »es ist ganz genau dasselbe Stück.«
Beim nächtlichen Nachhausegehen nahm er sich auf der Straße sehr zusammen, kaum hatte er jedoch die Haustüre bei Wahrmanns aufgesperrt, so stimmte er einen greulich unmelodischen Gesang an und stolperte geräuschvoll die Stiege empor.
Seit Frau Ratgeber im Hause weilte, betrank er sich nicht mehr und verwendete größere Sorgfalt als bisher auf seinen Anzug. Am Morgen nach dem kleinen Tanzfest schickte er seinen Burschen mit einem Strauß von Rosen und einer Visitenkarte, auf deren Rückseite in sorgfältig gemalten Buchstaben zu lesen stand:
Schönheit besiegt ein jedes Herz
Und sei es auch so hart wie Erz.
Bald danach hörte man ihn mit klirrendem Wehrgehänge die Stiege herabpoltern, er machte im Frühstückszimmer seine Aufwartung, aber seine Haltung verlor an Sicherheit, als die Kinder, durch sein wunderliches Grimassenschneiden belustigt, kichernd entflohen.
Es nahte die Zeit der Reife, das Obst auf den Bäumen wurde schwer. Täglich wanderten die Kinder in die Beeren. Spät nachmittags zog die belebte Schar heimwärts, die Mütter kamen ihnen auf der Landstraße entgegen und freuten sich der reichen Ausbeute. An einem schönen Septembertag brachen beide Familien morgens um fünf Uhr auf und fuhren nach Pappenheim, wo sie von Bekannten zur Obstlese eingeladen waren. Engelhart, sich von den Seinen mit Absicht entfernend, schritt durch den riesengroßen Garten, der über mehrere Hügel hingebreitet war, und sah ein Schloß, das den Gipfel eines Berges krönte. Es wurde ihm feurig zu Sinn, als er wieder zu den andern zurückkehrte, stieß er ein Jubelgeschrei aus. Doch diese waren ebenfalls in Glückseligkeit gefangen, Frau Agathe schritt mit stillem Lächeln umher und deutete manchmal auf den Himmel, der so strahlend war, als ob ein blaues Feuer ihn erfüllte. Dann sank die Sonne, Engelhart hatte ein schneidendes Gefühl von Schmerz, es tönte eine Stimme: jetzt ist es genug der Freuden.
Wenige Tage später mußten sie nach Hause reisen, Herr Ratgeber war früher, als er gedacht, zurückgekehrt. Kisten und Koffer wurden gepackt, und gegen Abend setzte sich die ganze Karawane nach dem Bahnhof in Bewegung. Erst dort begriff Engelhart, daß es sich um Scheiden und Trennung handle. Wie im Schlaf küßte er die Mädchen, später durchzuckte es ihn, daß er Esmees Mund feucht auf dem seinen gefühlt. Der Zug rasselte davon, die Nacht brach ein, fremde Leute saßen im Coupé, Ketti hielt den Säugling im Arm, Gerda und Abel schlummerten aneinandergelehnt. Auch Frau Agathe schien müde, ihr Blick war in die Dunkelheit hinaus gerichtet, die Hände lagen still im Schoß. Engelhart schaute sie an und seine Lippen murmelten wie von selber Esmees Verse und zerhackten sie mit dem Takt der Eisenbahnräder:
»In den Garten wollen wir gehn,
Wo die schönen Rosen stehn,
Stehn der Rosen gar zu viel,
Brech’ ich mir eine, wo ich will.«
Er träumte, daß ein ungeheurer Mensch käme und ihn wie ein Stück Holz unter den Arm schiebe. Der Mensch