Eine erste Bestätigung dieser Anschauung von dem Zusammenhange zwischen Gedächtnis und Genialität, wie der Deduktion dieses Zusammenhanges, die hier versucht wurde, liegt in dem außerordentlichen, die Besitzer oft selbst verblüffenden Gedächtnis für scheinbar nebensächliche Umstände, für Kleinigkeiten, das begabtere Menschen auszeichnet. Bei der Universalität ihrer Veranlagung hat nämlich alles eine, ihnen selbst oft lange unbewußte, Bedeutung für sie; und so bleiben sie hartnäckig an ihrem Gedächtnisse kleben, prägen sich diesem ganz von selbst unverlöschbar ein, ohne daß im allgemeinen die geringste Mühe an die spezielle Erinnerung gewendet oder die Aufmerksamkeit in den Dienst dieses Gedächtnisses noch besonders gestellt würde. Darum könnte man, in einem erst später zu erhellenden tieferen Sinne, bereits jetzt den genialen Menschen als denjenigen bestimmen, der die Redensart nicht kennt, und weder sich selbst noch anderen gegenüber zu gebrauchen vermöchte, dies oder jenes Ereignis aus entlegener Zeit sei »gar nicht mehr wahr«. Es gibt vielmehr für ihn nichts, das ihm nicht mehr wahr wäre, auch wenn, ja vielleicht gerade weil er für alles, was im Laufe der Zeit anders geworden ist, ein deutlicheres Gefühl hat als alle anderen Menschen.
Als das beste Mittel zur objektiven Prüfung der Begabung, der geistigen Bedeutung eines Menschen läßt sich darum dies empfehlen: man sei längere Zeit mit ihm nicht beisammen gewesen und fange nun von dem letzten Zusammensein zu sprechen an, knüpfe das neue Gespräch an die Gegenstände des letzten. Man wird gleich zu Beginn gewahr werden, wie lebhaft er dieses aufgenommen, wie nachhaltig es in ihm fortgewirkt hat, und sehr bald sehen, wie treu er die Einzelheiten bewahrt hat. Wie vieles unbegabte Menschen aus ihrem Leben vergessen, das kann, wer Lust hat, zu seiner Überraschung und seinem Entsetzen nachprüfen. Es kommt vor, daß man mit ihnen vor wenigen Wochen stundenlang beisammen war: es ist ihnen nun entschwunden. Man kann Menschen finden, mit denen man vor einigen Jahren acht oder vierzehn Tage lang, zufällig oder in bestimmten Angelegenheiten, sehr viel zu tun hatte, und die nach Ablauf dieser Zeit an nichts mehr sich zu erinnern vermögen. Freilich, wenn man ihnen durch genaue Darstellung alles dessen, worum es sich handelte, durch Wiederbelebung der Situation in allen ihren Details, zu Hilfe kommt, so gelingt es immer, falls diese Bemühung lange genug fortgesetzt wird, zuerst ein schwaches Aufleuchten des fast völlig Erloschenen und allmählich eine Erinnerung herbeizuführen. Solche Erfahrungen haben es mir sehr wahrscheinlich gemacht, daß die theoretisch immer zu machende Annahme, es gebe kein völliges Vergessen, sich auch empirisch, und zwar nicht bloß durch die Hypnose, nachweisen lassen dürfte, wenn man nur dem Befragten mit den richtigen Vorstellungen an die Hand zu gehen weiß.
Es kommt also darauf an, daß man einem Menschen aus seinem Leben, aus dem, was er gesagt oder gehört, gesehen oder gefühlt, getan oder erlitten hat, möglichst wenig erzählen könne, das er nicht selbst weiß. Hiemit ist zum ersten Male ein Kriterium der Begabung gefunden, welches leichter Überprüfung von seiten anderer zugänglich ist, ohne daß schon schöpferische Leistungen des Menschen vorliegen müssen. Wie vielfacher Anwendung in der Erziehung es entgegengeht, mag unerörtert bleiben. Für Eltern und Lehrer dürfte es gleich wichtig sein.
Vom Gedächtnisse der Menschen hängt, wie natürlich, auch das Maß ab, in welchem sie in der Lage sein werden, sowohl Unterschiede als Ähnlichkeiten zu bemerken. Am meisten wird diese Fähigkeit bei jenen entwickelt sein, in deren Leben immer die ganze Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, bei denen alle Einzelmomente des Lebens zur Einheit zusammenfließen und aneinander verglichen werden. So kommen gerade sie am vornehmlichsten in die Gelegenheit, Gleichnisse zu gebrauchen, und zwar gerade mit dem Tertium comparationis, auf das es gerade ankommt; denn sie werden aus dem Vergangenen immer dasjenige herausgreifen, was die stärkste Übereinstimmung mit dem Gegenwärtigen aufweist, indem beide Erlebnisse, das neue und das zum Vergleiche herangezogene ältere, bei ihnen artikuliert genug dazu sind, um keine Ähnlichkeit und keinen Unterschied vor ihrem Auge zu verbergen; und darum eben auch, was längst vorbei ist, gegen den Einfluß der Jahre hier sich behaupten konnte. Nicht umsonst hat man daher die längste Zeit in dem Reichtum eines Dichters an schönen und vollkommenen Gleichnissen und Bildern einen besonderen Vorzug seiner Gattung erblickt, seine Lieblingsgleichnisse aus dem Homer, aus Shakespeare und Klopstock immer wieder aufgeschlagen oder bei der Lektüre mit Ungeduld erwartet. Heute, da Deutschland seit 150 Jahren zum ersten Mal ohne großen Künstler und ohne großen Denker ist, indes dafür bald niemand mehr aufzutreiben sein wird, der nicht »geschrieben« hätte, heute scheint das ganz vorüber; man sucht nach derartigem nicht, man würde auch nichts finden. Eine Zeit, die in vagen, undeutlich schillernden Stimmungen ihr Wesen am besten ausgesprochen sieht, deren Philosophie in mehr als einem Sinne das Unbewußte geworden ist, zeigt zu offensichtlich, daß nicht ein wahrhaft Großer in ihr lebt; denn Größe ist Bewußtsein, vor dem der Nebel des Unbewußten schwindet wie vor den Strahlen der Sonne. Gäbe ein einziger dieser Zeit ein Bewußtsein, wie gerne würde sie all ihre Stimmungskunst, deren sie sich heute noch berühmt, dahingeben! – Erst im vollen Bewußtsein, in welchem in das Erlebnis der Gegenwart alle Erlebnisse der Vergangenheit in größter Intensität hineinspielen, findet Phantasie, die Bedingung des philosophischen wie des künstlerischen Schaffens, eine Stelle. Demgemäß ist es auch gar nicht wahr, daß die Frauen mehr Phantasie haben als die Männer. Die Erfahrungen, auf Grund deren man dem Weibe eine lebhaftere Einbildungskraft hat zusprechen wollen, entstammen sämtlich dem sexuellen Phantasieleben der Frauen; und die Folgerungen, die allein mit Recht hieraus gezogen werden könnten, gestatten eine Behandlung in diesem Zusammenhange noch nicht.
Die absolute Bedeutungslosigkeit der Frauen in der Musikgeschichte läßt sich wohl noch auf weit tiefere Gründe zurückführen: doch beweist sie zunächst den Mangel des Weibes an Phantasie. Denn zur musikalischen Produktivität gehört unendlich viel mehr Phantasie als selbst das männlichste Weib besitzt: viel mehr als zu sonstiger künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeit. Nichts Wirkliches in der Natur, nichts Gegebenes in der sinnlichen Empirie entspricht einem Tonbilde. Die Musik ist wie ohne Beziehungen zur Erfahrungswelt: es gibt keine Klänge, keine Accorde, keine Melodien in der Natur, sondern hier hat erst der Mensch auch die letzten Elemente noch selbständig zu erzeugen. Jede andere Kunst hat deutlichere Beziehungen zur empirischen Realität als sie, ja die ihr, was man auch dagegen sagen mag, verwandte Architektur betätigt sich bis zuletzt an einem Stoffe; obwohl sie mit der Musik die Eigenschaft teilt, daß sie (vielleicht sogar mehr noch als diese) von sinnlicher Nachahmung frei ist. Darum ist auch Baukunst eine durchaus männliche Sache, der weibliche Baumeister eine fast nur Mitleid weckende Vorstellung.
Desgleichen rührt die »verdummende« Wirkung der Musik auf schaffende und ausübende Musiker, von der man öfter sprechen hört (besonders kommt hier die reine Instrumentalmusik in Betracht), nur davon her, daß noch der Geruchssinn dem Menschen mehr zur Orientierung in der Erfahrungswelt dienen kann als der Inhalt eines musikalischen Werkes. Und eben diese gänzliche Abwesenheit aller Beziehungen zur Welt, die wir sehen, tasten, riechen können, macht die Musik