Denken wir daran, um wieviel besser der große Dichter in die Menschen sich hineinversetzen kann als der Durchschnittsmensch. Man ermesse die außerordentliche Anzahl der Charaktere, die Shakespeare, die Euripides geschildert haben; oder denke an die ungeheuere Mannigfaltigkeit der Personen, die in den Romanen Zolas auftreten. Heinrich von Kleist hat nach der Penthesilea ihr vollendetes Gegenteil, das Käthchen von Heilbronn geschaffen, Michel Angelo die Leda und die delphische Sibylle aus seiner Phantasie heraus verkörpert. Es gibt wohl wenige Menschen, die so wenig darstellende Künstler waren wie Immanuel Kant und Joseph Schelling, und doch sind sie es, die über die Kunst das Tiefste und Wahrste geschrieben haben.
Um nun einen Menschen zu erkennen oder darzustellen, muß man ihn verstehen. Um aber einen Menschen zu verstehen, muß man mit ihm Ähnlichkeit haben, man muß so sein wie er, um seine Handlungen nachzubilden und würdigen zu können, muß man die psychologischen Voraussetzungen, die sie in ihm hatten, in sich selbst nachzuerzeugen vermögen: einen Menschen verstehen, heißt ihn in sich haben. Man muß dem Geist gleichen, den man begreifen will. Darum versteht ein Gauner nur immer gut den anderen Gauner, ein gänzlich harmloser Mensch wieder vermag nie jenen, stets nur eine ihm ebenbürtige Gutmütigkeit zu fassen; ein Poseur erklärt sich die Handlungen des anderen Menschen fast immer als Posen und vermag einen zweiten Poseur rascher zu durchschauen als der einfache Mensch, an den der Poseur seinerseits nie recht zu glauben imstande ist. Einen Menschen verstehen heißt also: er selbst sein.
Danach müßte aber jeder Mensch sich selbst am besten verstehen, und das ist gewiß nicht richtig. Kein Mensch kann sich selbst je verstehen, denn dazu müßte er aus sich selbst herausgehen, dazu müßte das Subjekt des Erkennens und Wollens Objekt werden können: ganz wie, um das Universum zu verstehen, ein Standpunkt noch außerhalb des Universums erforderlich wäre, und einen solchen zu gewinnen, ist nach dem Begriffe eines Universums nicht möglich. Wer sich selbst verstehen könnte, der könnte die Welt verstehen. Daß dieser Satz nicht nur vergleichsweise gilt, sondern ihm eine sehr tiefe Bedeutung innewohnt, wird sich aus der Darstellung allmählich ergeben. Für den Augenblick ist sicher, daß man sein tiefstes eigenstes Wesen nicht selbst verstehen kann. Und es gilt auch wirklich: man wird, wenn man überhaupt verstanden wird, immer nur von anderen, nie von sich selbst verstanden. Der andere nämlich, der mit dem ersten eine Ähnlichkeit hat und ihm in anderer Beziehung doch gar nicht gleich ist, dem kann diese Ähnlichkeit zum Gegenstande der Betrachtung werden, er kann sich im anderen, oder den anderen in sich erkennen, darstellen, verstehen. Einen Menschen verstehen heißt also: auch er sein.
Der geniale Mensch aber offenbarte sich an jenen Beispielen eben als der Mensch, welcher ungleich mehr Wesen versteht als der mittelmäßige. Goethe soll von sich gesagt haben, es gebe kein Laster und kein Verbrechen, zu dem er nicht die Anlage in sich verspürt, das er nicht in irgend einem Zeitpunkte seines Lebens vollauf verstanden habe. Der geniale Mensch ist also komplizierter, zusammengesetzter, reicher; und ein Mensch ist um so genialer zu nennen, je mehr Menschen er in sich vereinigt, und zwar, wie hinzugefügt werden muß, je lebendiger, mit je größerer Intensität er die anderen Menschen in sich hat. Wenn das Verständnis des Nebenmenschen nur wie ein schwaches Stümpchen in ihm brennte, dann wäre er nicht imstande, als großer Dichter in seinen Helden das Leben einer mächtigen Flamme gleich zu entzünden, seine Figuren wären ohne Mark und Kraft. Das Ideal gerade von einem künstlerischen Genius ist es, in allen Menschen zu leben, an alle sich zu verlieren, in die Vielheit zu emanieren; indes der Philosoph alle anderen in sich wiederfinden, sie zu einer Einheit, die eben immer nur seine Einheit sein wird, zu resorbieren die Aufgabe hat.
Diese Proteus-Natur des Genies ist, ebensowenig wie früher die Bisexualität, als Simultaneität aufzufassen; auch dem größten Genius ist es nicht gegeben, zu gleicher Zeit, etwa an einem und demselben Tage, das Wesen aller Menschen zu verstehen. Die umfassendere und inhaltsvollere Anlage, welche ein Mensch geistig besitzt, kann nur nach und nach, in allmählicher Entfaltung seines ganzen Wesens sich offenbaren. Es hat den Anschein, daß auch sie in einem bestimmten Ablauf gesetzmäßiger Perioden zum Vorschein kommt. Diese Perioden wiederholen sich aber im Laufe des Lebens nicht in der gleichen Weise, als wäre jede nur die gewöhnliche Wiederholung der vorhergegangenen, sondern sozusagen in immer höherer Sphäre; es gibt nicht zwei Momente des individuellen Lebens, die einander ganz gleichen; und es existiert zwischen den späteren und den früheren Perioden nur die Ähnlichkeit der Punkte der höheren mit den homologen der niederen Spiralwindung. Daher kommt es, daß hervorragende Menschen so oft in ihrer Jugend den Plan zu einem Werke fassen, nach langer Pause im Mannesalter das Jahre hindurch nicht vorgenommene Konzept einer Bearbeitung unterziehen und erst im Greisenalter nach abermaligem Zurückstellen es vollenden: es sind die verschiedenen Perioden, in die sie abwechselnd treten und die sie stets mit anderen Gegenständen erfüllen. Diese Perioden existieren bei jedem Menschen, nur in verschiedener Stärke, mit verschiedener »Amplitüde«. Da das Genie die meisten Menschen mit der größten Lebendigkeit in sich hat, wird die Amplitüde der Perioden um so ausgesprochener sein, je bedeutender ein Mensch in geistiger Beziehung ist. Hochstehende Menschen hören daher meist von Jugend auf von Seiten ihrer Erzieher den Vorwurf, daß sie fortwährend »von einem Extrem ins andere« fielen. Als ob sie sich dabei besonders wohl befinden würden! Gerade beim hervorragenden Menschen nehmen solche Übergänge in der Regel einen ausgesprochen krisenhaften Charakter an. Goethe hat einmal von der »wiederholten Pubertät« der Künstler gesprochen. Was er gemeint hat, hängt innig mit diesem Gegenstande zusammen. Denn gerade die starke Periodizität des Genies bringt es mit sich, daß bei ihm immer erst auf sterile Jahre die fruchtbaren und auf sehr produktive Zeiten immer wieder sehr unfruchtbare folgen – Zeiten, in denen er von sich nichts hält, ja von sich psychologisch (nicht logisch) weniger hält als von jedem anderen Menschen: quält ihn doch die Erinnerung an die Schaffensperiode, und vor allem – wie frei sieht er sie, die von solchen Erinnerungen nicht Belästigten, herumgehen! Wie seine Ekstasen gewaltiger sind als die der anderen, so sind auch seine Depressionen fürchterlicher. Bei jedem hervorragenden Menschen gibt es solche Zeiten, kürzere und längere; Zeiten, wo er in völliger Verzweiflung an sich selbst sein, wo es bei ihm zu Selbstmordgedanken kommen kann, Zeiten, wo zwar auch eine Menge Dinge ihm auffallen können, und vor allem eine Menge Dinge sich ansetzen werden für eine spätere Ernte; wo aber nichts mit dem gewaltigen Tonus der produktiven Periode erscheint, wo, mit anderen Worten, der Sturm sich nicht einstellt; Zeiten, in denen wohl über solche, die trotzdem fortzuschaffen versuchen, gesagt wird: »Wie der jetzt herunterkommt!« »Wie der sich völlig ausgegeben hat!« »Wie der sich selbst kopiert!« etc. etc.
Auch seine anderen Eigenschaften, nicht bloß ob er überhaupt, sondern auch der Stoff, in welchem, der Geist, aus welchem heraus er produziert, sind im genialen Menschen einem Wechsel und einer starken Periodizität unterworfen. Er ist das eine Mal eher reflektierend und wissenschaftlich, das andere Mal mehr zu künstlerischer Darstellung disponiert (Goethe); zuerst konzentriert sich sein Interesse auf die menschliche Kultur und Geschichte, dann wieder auf die Natur (man halte Nietzsches »Unzeitgemäße Betrachtungen« neben seinen »Zarathustra«); er ist jetzt mystisch, nachher naiv (solche Beispiele haben in jüngster Zeit Björnson und Maurice Maeterlinck gegeben). Ja, so groß ist im hervorragenden Menschen die »Amplitüde« der Perioden, in denen die verschiedenen Seiten seines Wesens, die vielen Menschen, die in ihm intensiv leben, aufeinander succedieren, daß diese Periodizität auch physiognomisch sich deutlich offenbart. Hieraus möchte ich die auffallende Erscheinung erklären, daß bei begabteren Menschen der Ausdruck des Antlitzes viel öfter wechselt als bei Unbegabten, ja daß sie zu verschiedenen Zeiten oft unglaublich verschiedene Gesichter haben können; man vergleiche nur die von Goethe, von Beethoven, von Kant, von Schopenhauer aus den verschiedenen Epochen ihres Lebens erhaltenen Bilder! Man kann die Zahl der Gesichter, die ein Mensch hat, geradezu als ein physiognomisches Kriterium seiner Begabung ansehen. Menschen,