Die Lehre von den Spezialgenies, die es gestattet, z. B. vom »Musikgenie« zu reden, das »in allen anderen Beziehungen unzurechnungsfähig« sei, verwechselt abermals Talent und Genie. Der Musiker kann, wenn er wahrhaft groß ist, in der Sprache, auf die ihn die Richtung seines besonderen Talentes weist, genau so universell sein, genau so die ganze innere und äußere Welt durchmessen wie der Dichter oder der Philosoph; solch ein Genie war Beethoven. Und er kann in ebenso beschränkter Sphäre sich bewegen wie ein mittelmäßiger wissenschaftlicher oder künstlerischer Kopf; solch ein Geist war Johann Strauß, den es merkwürdig berührt, ein Genie nennen zu hören, so schöne Blüten eine lebhafte, aber sehr eng begrenzte Einbildungskraft in ihm auch getrieben hat. Es gibt, um nochmals darauf zurückzukommen, vielerlei Talente, aber es gibt nur eine Genialität, die ein beliebiges Talent wählen und ergreifen mag, um in ihm sich zu betätigen. Es gibt etwas, das allen genialen Menschen als genialen gemeinsam ist, so sehr auch der große Philosoph vom großen Maler, der große Musiker vom großen Bildhauer, der große Dichter vom großen Religionsstifter sich sonst unterscheiden mögen. Das Talent, durch dessen Medium die eigentliche Geistesanlage eines Menschen sich offenbart, ist viel mehr Nebensache, als man gewöhnlich glaubt, und wird aus der großen Nähe, aus welcher kunstphilosophische Betrachtung leider so oft erfolgt, in seiner Wichtigkeit meist weit überschätzt. Nicht nur die Unterschiede in der Begabung, auch die Gemütsart und Weltanschauung kehren sich wenig an die Grenzen der Künste voneinander, diese werden übersprungen, und so ergeben sich dem vorurteilsloseren Blick oft überraschende Ähnlichkeiten; er wird dann, statt innerhalb der Musikgeschichte, respektive der Geschichte der Kunst, der Literatur und Philosophie nach Analogien zu blättern, lieber ungescheut z. B. Bach mit Kant vergleichen, Karl Maria v. Weber neben Eichendorff stellen, und Böcklin mit Homer zusammenhalten; und wenn so die Betrachtung reiche Anregung und große Fruchtbarkeit gewinnen kann, so wird das auch dem psychologischen Tiefblick schließlich zugute kommen, an dessen Mangel alle Geschichtsschreibung von Kunst wie von Philosophie am empfindlichsten krankt. Welche organischen und psychologischen Bedingungen es übrigens sind, die ein Genie entweder zum mystischen Visionär oder etwa zum großen Zeichner werden lassen, das muß als unwesentlich für die Zwecke dieser Schrift beiseite bleiben.
Von jener Genialität aber, die, bei allen oft sehr tief gehenden Unterschieden zwischen den einzelnen Genies, eine und dieselbe bleibt und, nach dem hier aufgestellten Begriffe, überall manifestiert werden kann, ist das Weib ausgeschlossen. Wenn auch die Frage, ob es rein wissenschaftliche, und ob es bloß handelnde, nicht nur künstlerische und philosophische Genies geben könne, erst in einem späteren Abschnitt zur Entscheidung gebracht werden soll: man hat allen Grund, vorsichtiger zu verfahren mit der Verleihung des Prädikates genial, als man dies bisher gewesen ist. Es wird sich noch deutlich zeigen: will man überhaupt vom Wesen der Genialität eine Vorstellung sich bilden und zu einem Begriffe derselben zu gelangen suchen, so muß die Frau als ungenial bezeichnet werden; und trotzdem wird niemand der Darstellung nachsagen dürfen, sie hätte im Hinblick auf das weibliche Geschlecht irgend einen willkürlichen Begriff erst konstruiert und ihn nachträglich als das Wesen der Genialität hingestellt, um nur den Frauen keinen Platz innerhalb derselben gönnen zu müssen.
Hier kann auf die anfänglichen Betrachtungen des Kapitels zurückgegriffen werden. Während die Frau der Genialität kein Verständnis entgegenbringt, außer einem, das sich eventuell an die Persönlichkeit eines noch lebenden Trägers knüpfte, hat der Mann jenes tiefe Verhältnis zu dieser Erscheinung an sich, das Carlyle in seinem noch immer so wenig verstandenen Buche Hero-Worship, Heldenverehrung, genannt und so schön und hinreißend ausgemalt hat. In der Heldenverehrung des Mannes kommt abermals zum Ausdruck, daß Genialität an die Männlichkeit geknüpft ist, daß sie eine ideale, potenzierte Männlichkeit vorstellt16; denn das Weib hat kein originelles, sondern ein ihr vom Manne verliehenes Bewußtsein, sie lebt unbewußt, der Mann bewußt: am bewußtesten aber der Genius.
V. Kapitel.
Begabung und Gedächtnis
Um von der Heniden-Theorie auszugehen, sei folgende Beobachtung erzählt. Ich notierte gerade, halb mechanisch, die Seitenzahl einer Stelle aus einer botanischen Abhandlung, die ich später zu exzerpieren beabsichtigte, als ich etwas in Henidenform dachte. Aber was ich da dachte, wie ich es dachte, was da an die Tür der Bewußtheit klopfte, dessen konnte ich mich schon im nächsten Augenblick trotz aller Anstrengung nicht entsinnen. Aber gerade darum ist dieser Fall – er ist typisch – besonders lehrreich.
Je plastischer, je geformter ein Empfindungskomplex ist, desto eher ist er reproduzierbar. Deutlichkeit des Bewußtseins ist erste Bedingung der Erinnerung, der Intensität der Bewußtseinserregung ist das Gedächtnis an die Erregung proportional. »Das wird mir unvergeßlich bleiben«, »daran werde ich mein Lebtag denken«, »das kann mir nie mehr entschwinden« sagt ja der Mensch von Ereignissen, die ihn heftig aufgeregt haben, von Augenblicken, aus denen er um eine Einsicht klüger, um eine wichtige Erfahrung reicher geworden ist. Steht also die Reproduzierbarkeit der Bewußtseinsinhalte im geraden Verhältnis zu ihrer Gliederung, so ist klar, daß an die absolute Henide überhaupt keine Erinnerung möglich sein wird.
Da nun die Begabung17 eines Menschen mit der Artikulation seiner gesamten Erlebnisse wächst, so wird einer, je begabter er ist, desto eher an seine ganze Vergangenheit, an alles, was er je gedacht und getan, gesehen und gehört, empfunden und gefühlt hat, sich erinnern können, mit desto größerer Sicherheit und Lebhaftigkeit wird er alles aus seinem Leben reproduzieren. Das universelle Gedächtnis an alles Erlebte ist darum das sicherste, allgemeinste, am leichtesten zu ergründende Kennzeichen des Genies. Es ist zwar eine verbreitete und besonders unter allen Kaffeehausliteraten beliebte Lehre, daß produktive Menschen (weil sie Neues schüfen) kein Gedächtnis hätten: aber offenbar nur, weil darin die einzige Bedingung der Produktivität liegt, die bei ihnen erfüllt ist.
Freilich darf man diese große Ausdehnung und Lebendigkeit des Gedächtnisses beim genialen Menschen, die ich zunächst als eine Folgerung aus dem Systeme ganz dogmatisch einführe, ohne sie aus der Erfahrung neu zu begründen, nicht mit dem raschen Vergessen des gesamten gymnasialen Geschichtsstoffes oder der unregelmäßigen Verba des Griechischen widerlegen wollen. Es handelt sich um das Gedächtnis für das Erlebte, nicht um die Erinnerung an das Erlernte; was zu Prüfungszwecken studiert wird, davon wird immer nur der kleinste Teil behalten, jener Teil, welcher dem speziellen Talente des Schülers entspricht. So kann ein Zimmermaler ein besseres Gedächtnis für Farben haben als der größte Philosoph, der beschränkteste Philologe ein besseres Gedächtnis für die vor Jahren auswendig gelernten Aoriste als sein Kollege, der vielleicht ein genialer Dichter ist. Es verrät die ganze Jämmerlichkeit und Hilflosigkeit der experimentellen Richtung in der Psychologie (noch mehr aber die Unfähigkeit so vieler Leute, die, mit einem Arsenal von elektrischen Batterien und Sphygmographiontrommeln im Rücken, gestützt auf die »Exaktheit« ihrer langweiligen Versuchsreihen, nun in rebus psychologicis vor allen anderen gehört zu werden beanspruchen), daß sie das Gedächtnis der Menschen durch Aufgaben, wie das Erlernen von Buchstaben, mehrzifferigen Zahlen, zusammenhanglosen Worten prüfen zu können glaubt. An das eigentliche Gedächtnis des Menschen, jenes Gedächtnis, welches in Betracht kommt, wenn ein Mensch die Summe seines Lebens zieht, reichen diese Versuche so wenig heran, daß man sich unwillkürlich zu der Frage gedrängt sieht, ob jene fleißigen Experimentatoren von der Existenz dieses anderen Gedächtnisses, ja eines psychischen Lebens überhaupt, etwas wissen. Jene Untersuchungen stellen die verschiedensten Menschen unter ganz uniformierende Bedingungen, denen gegenüber nie Individualität sich äußern kann, sie abstrahieren wie geflissentlich gerade vom Kern des Individuums, und behandeln es einfach als guten oder schlechten Registrierapparat. Es liegt ein großer Tiefblick darin, daß im Deutschen »bemerken« und »merken« aus der nämlichen Wurzel gebildet ist. Nur was auffällt, von selbst, infolge angeborner Beschaffenheit, wird behalten. Wessen man sich erinnert, dafür muß ein ursprüngliches Interesse vorhanden sein, und wenn etwas vergessen wird, dann war die Anteilnahme an ihm nicht stark genug. Dem religiösen Menschen werden darum religiöse Lehren, dem Dichter Verse, dem Zahlenmystiker Zahlen am sichersten und längsten haften bleiben.
Und