„Zuerst wollen wir das Buch anschauen“, meinte der Doktor.
Der Squire und ich guckten ihm beide über die Schulter, als er es öffnete, denn Dr. Livesay lud mich freundlich ein, vom Seitentischchen, an dem ich gegessen hatte, herüberzukommen, um an der Freude des Suchens teilzuhaben. Auf der ersten Seite waren nur ein paar Kritzeleien zu sehen, wie man sie mit der Feder in der Hand wohl zum Zeitvertreib hinschmieren mag. Da stand zum Beispiel auch der Text der einen Tätowierung: „Billy Bones’ Liebste“, dann „Herr W. Bones, Maat“, „Kein Rum mehr“, „Bei Palm Kay kriegte er waß“, und noch einige solcher Bemerkungen, meist aus einzelnen, unverständlichen Worten bestehend. Ich konnte nicht umhin darüber nachzudenken, wer da „waß“ gekriegt haben mochte. Höchstwahrscheinlich ein Messer in den Rücken, dachte ich mir.
„Da steht nicht viel drin“, sagte Dr. Livesay, weiterblätternd.
Die nächsten zehn oder zwölf Seiten enthielten eine Reihe seltsamer Aufzeichnungen: Da war am einen Ende der Seite ein Datum und am anderen eine Geldsumme notiert, wie in einem gewöhnlichen Geschäftsbuch, doch dazwischen stand statt eines erklärenden Textes bloß eine Anzahl von Kreuzen. Am 12. Juli 1745 zum Beispiel war offenbar ein Eingang von siebzig Pfund eingetragen, aber die Erklärung der Sache bildeten nur sechs Kreuze. In einigen Fällen war der Name eines Ortes dazu notiert, zum Beispiel „auf der Höhe von Caraccas“, oft auch nur der geographische Längen- und Breitengrad wie „62. 17′ 20″, 19. 2′ 40″“.
Die Eintragungen gingen über fast zwanzig Jahre zurück, die einzelnen Posten wurden mit der Zeit immer größer, und am Schlusse war nach fünf oder sechs falschen Additionen die große Endsumme gezogen und darunter stand: „Bones sein Vermögen.“
„Ich verstehe nicht eine Spur davon“, sagte Dr. Livesay.
„Die Sache ist sonnenklar,“ rief der Squire, „das ist das Abrechnungsbuch dieses miserablen Schuftes. Diese Kreuze stehen für die Namen der Schiffe und Städte, die sie versenkt oder geplündert haben. Die Summen waren der Anteil des Schurken und dort, sehen Sie, wo er eine Unklarheit befürchtete, machte er eine deutlichere Notiz, wie hier: ‚Auf der Höhe von Caraccas.‘ Es ist klar, an der Küste dort wurde ein unglückliches Fahrzeug genommen. Wo sind nun die armen Teufel, die darauf waren! Die haben längst die Fische gefressen!“
„Wahrhaftig!“ sagte der Doktor. „Da sieht man, was es bedeutet ein weitgereister Mann zu sein. Ganz sicher ist es so! Und sein Anteil steigt, das kann man deutlich verfolgen, mit seinem Rang.“
Sonst stand wenig in dem Buch, nur die geographische Lage von ein paar Orten und auf den leeren Blättern gegen das Ende zu eine Umrechnungstabelle von französischen, englischen und spanischen Münzen.
„Ein vorsichtiger Herr!“ rief der Doktor. „Der ließ sich nicht beschummeln.“
„Und nun“, sagte der Squire, „zum andern.“
Das Papier war an mehreren Stellen mittels eines Fingerhutes und Siegellacks versiegelt, desselben Fingerhutes wahrscheinlich, den ich in der Tasche des Kapitäns gefunden hatte. Der Doktor löste die Siegel mit großer Sorgfalt und es fiel die Karte einer Insel heraus, mit Längen- und Breitengraden bezeichnet, Angabe der lotbaren Wassertiefe, Namen der Berge, Buchten und Zufahrten und allen Einzelheiten, die notwendig waren, ein Schiff dort zum sicheren Ankern zu bringen. Die Insel war ungefähr neun Meilen lang und fünf Meilen breit und hatte etwa die Gestalt eines aufgestellten Drachen.
Sie besaß zwei schöne Hafenplätze und in der Mitte einen Berg, der als das „Fernrohr“ bezeichnet war. Dann gab es noch ein paar Eintragungen späteren Datums, vor allem drei Kreuze mit roter Tinte, zwei am nördlichen Teil der Insel, eines am südlichen und neben diesem, mit derselben roten Tinte, doch in einer kleinen hübschen Handschrift, ganz verschieden von den plumpen, zittrigen Buchstaben des Kapitäns, folgende Worte vermerkt: „Hauptmasse des Schatzes hier.“
Auf der Rückseite hatte dieselbe Hand folgende Erläuterungen aufgezeichnet:
„Hoher Baum, Abhang des ‚Fernrohrs‘, dessen Spitze nach N. von NNO. zeigt.“
„Skelett-Insel O., SO. und nach O.
Zehn Fuß.
Das Barrensilber ist im nördlichen Versteck, es liegt in der Richtung des östlichen Hügels, zehn Faden südlich von der schwarzen Klippe, dieser gegenüber.
Die Waffen sind leicht zu finden, auf dem Sandhügel, Nordspitze des nördlichen Kaps, Richtung O. und ein Viertel N.
Das war alles. Doch so wenig es auch schien und so vollkommen unverständlich es mir war, der Squire und Dr. Livesay waren begeistert.
„Livesay,“ sagte der Gutsherr, „Ihr werdet sofort diese elende Praxis aufgeben. Morgen reise ich nach Bristol. Binnen drei Wochen – ah, drei Wochen! – zwei Wochen! Binnen zehn Tagen haben wir das beste Schiff, Herr und die ausgesuchteste Mannschaft in England. Hawkins wird als Schiffsjunge mitkommen. Du wirst ein famoser Schiffsjunge sein, Hawkins; Ihr, Livesay, seid Schiffsarzt, ich bin Admiral. Redruth, Joyce und Hunter nehmen wir mit. Wir werden günstige Winde haben, eine rasche Überfahrt, nicht die geringsten Schwierigkeiten den Ort zu finden und Geld wie Heu – Geld genug, um darin zu baden, genug, um unser Leben lang Kopf und Adler zu spielen.“
„Trelawney,“ sagte der Doktor, „ich gehe mit Euch, und ich wette, auch Jim geht mit und wird ein Gewinn für die Sache sein. Nur vor einem Mann fürchte ich mich.“
„Vor wem?“ rief der Patron. „Nennt den Hund, Herr!“
„Ihr,“ erwiderte der Squire, „denn Ihr könnt nicht den Mund halten. Wir sind nicht die einzigen, die von dem Papier da wissen. Jene Kerle, die heute Nacht den Gasthof stürmten – ganz gewiß mutige, zu allem entschlossene Desperados – und dann alle die übrigen, die auf dem Kutter geblieben waren und ich denke schon, noch andere, die nicht weit weg waren, alle gehen sie, ich zweifle nicht daran, durch dick und dünn, um das Geld zu kriegen. Keiner von uns darf ohne Begleitung das Haus verlassen, ehe wir abreisen. Jim und ich wollen unterdessen zusammenstecken. Ihr nehmt Joyce und Hunter mit, wenn Ihr nach Bristol geht und von Anfang bis zum Ende darf keiner von uns ein Wort von unserem Funde verlauten lassen.“ —
„Livesay,“ antwortete der Gutsherr, „Ihr habt vollkommen recht. Ich werde schweigen wie das Grab.“
Zweiter Teil
Siebentes Kapitel
Es dauerte länger als der Squire geglaubt hatte, bis wir seefertig waren, und keiner unserer ersten Pläne – nicht einmal der Dr. Livesays, mich bei sich zu behalten – konnte durchgeführt werden, so wie wir es beabsichtigt hatten. Der Doktor mußte nach London, um dort einen Stellvertreter aufzutreiben, der Squire war in Bristol tüchtig an der Arbeit und ich lebte weiter im Schloß unter der Obhut des alten Wildhüters Redruth, fast wie ein Gefangener, aber ganz erfüllt von Seephantasien und den herrlichsten Träumen von fernen Inseln und Abenteuern. Ich brütete stundenlang über der Karte und dachte über alle Einzelheiten nach, an die ich mich ganz genau erinnere. Beim Feuer im Zimmer des Verwalters sitzend, näherte ich mich der Insel von jeder möglichen Richtung her. Ich durchforschte jeden Quadratmeter ihrer Oberfläche, ich erklomm wohl tausendmal jenen steilen Hügel, das „Fernrohr“, und genoß von seiner Spitze aus die wundervollsten und abwechslungsreichsten Ausblicke. Manchmal war die Insel von Wilden dicht bevölkert, mit denen wir Kämpfe bestehen mußten, dann wieder gab es dort wilde Tiere, die uns verfolgten. Aber in keiner meiner Phantasien gingen so tragische und seltsame Dinge vor, wie wir sie wirklich erleben sollten.
So vergingen die Wochen, bis eines schönen Tages ein Brief, an Dr. Livesay gerichtet, ankam, mit dem Zusatz auf dem Umschlag: „Im Falle von dessen Abwesenheit von Tom Redruth oder dem jungen Hawkins zu öffnen.“ Dieser Anweisung folgend fanden wir – oder vielmehr fand ich, denn der Wildhüter konnte nur Gedrucktes