Es war während einer solchen Pause, denn das Gespräch stockte in dem Fall gewöhnlich auf einige Minuten und die kleine Gesellschaft horchte ebenfalls nach dem Kampf der aufgeregten Elemente hinüber, als der Verwalter langsam seine ausgetrunkene Tasse niedersetzte und mit leiser, fast ängstlicher Stimme sagte:
»Sie haben ganz recht gethan, Frau Pastorin, daß Sie sich heute einmal ausnahmsweise in des Herrn Pastors warmgelegenes Studirstübchen geflüchtet; da drüben in der großen Eckstube muß bei solchem Sturme ein keineswegs freundlicher Aufenthalt sein – draußen freilich ist's noch schlimmer; der Wind pfeift sich ordentlich sein Stückchen und es kommt Einem wahrhaftig manchmal sogar vor, als ob man einzelne Worte und Redensarten verstände – möchte heute nicht über den Kirchhof gehen.«
»Nicht über den Kirchhof?« wiederholte, sich lächelnd nach ihm umwendend, der Pastor, »Sie fürchten sich doch nicht etwa, Verwalterchen? ei, ei, ein Mann in Ihren Jahren –«
»Mein bester Herr Pastor,« meinte der Verwalter und rückte auf seinem Stuhl hin und her, »von fürchten kann bei mir wohl keine Rede sein, ich bin kein böser Mensch und – glaube nicht an Gespenster, wovor sollte ich mich also fürchten, aber –«
»Aber« lachte die Hausfrau und schaute mit einem schelmischen Blicke zu ihm auf, – »aber? der Herr Verwalter lassen sich noch eine Hinterthür offen.«
»Ei, ich meinte nur was das Kirchhofgehen betraf,« erwiederte gutmüthig der alte Mann, – »ich weiß ebensowohl wie jeder Andere, daß die Todten sanft da unten, unter ihrer warmen Decke ruhen, und Nachts nicht wieder herauf kommen werden, um sich auf die kalten Hügel zu setzen und hinter den weißen Steinen Versteckens zu spielen, aber ich vermeide auch gern jede unnütze Aufregung, die mir nachher immer nur Kopfschmerz und Unwohlsein verursacht. – Es hat etwas Unbehagliches für mich, mir in dem schwachen Dämmerlicht aus wehenden Trauerweiden und Büschen, die bleiche Steine halb überdecken, Gestalten mit weißen Gewändern und ringenden Händen heraus zu finden, und ich mag mich nicht in einem fort umsehen, weil ich jeden Augenblick darauf schwören wollte, es käme Jemand hinter mir drein. Ebenso ungern, und aus eben dem Grunde, sitze ich Abends allein in einem Zimmer und mit dem Rücken einer Thüre zugedreht, die halb offen oder angelehnt ist. Ich weiß dabei recht gut, daß sich Niemand im andern Zimmer befindet, also auch Niemand von da zu mir herein kann, und dennoch läßt es mir, wunderlicher Weise, keine Ruhe; ich muß mich entweder herumsetzen, oder die Thüre schließen.«
»Sie haben eine lebhafte Einbildungskraft, und die gaukelt Ihnen da allerlei seltsame Dinge vor,« fiel hier die Pastorin ein, »Sie denken sich in dem Augenblick vielleicht etwas recht Entsetzliches oder Graußliches, und das stört, wenn es auch nicht wirklich eintreffen kann, doch für kurze Zeit Ihre sonstige Ruhe.«
»Ih nun, mit der Einbildungskraft dürfen wir am Ende so etwas nicht einmal alleine entschuldigen,« meinte kopfschüttelnd der Schulmeister, »Einbildungskraft schreiben wir doch sonst schon einem ausgebildeteren Geiste zu und dasselbe Gefühl, das Ihnen der Herr Verwalter vorhin geschildert, finden Sie nicht selten bei dem geringsten Drescher, der sein Hirn den ganzen Tag über mit nichts weniger martert, als mit Gedanken und Ideen. Ich habe mir nach meiner schlichten Weise die Sache immer so versucht auszulegen: etwas Uebernatürliches giebt's doch, das können und dürfen wir nicht leugnen, wo das nun – uns versteht sich unbewußt, weil unsere Sinne zu grob und rauh sind es zu verstehen und zu erkennen – in unsere Nähe kommt, da läuft uns, wir wissen selbst nicht weshalb, eine sogenannte Gänsehaut über den ganzen Leib. Daher kommt auch wahrscheinlich die Sage von den Ahnungen, denn was ich meine, ist eben nichts weiter als eine Ahnung überirdischer Kräfte.«
»Die wir auch um Gotteswillen nicht ableugnen wollen,« sagte die Pastorin und wurde auf einmal ganz still und ernst, »ich dächte wir hätten davon ein Beispiel in unsrer eignen Familie.«
»In Ihrer eignen Familie?« frug der Verwalter rasch.
»Meine Frau bildet sich's wenigstens ein,« meinte der Pastor kopfschüttelnd; »die Sache klingt freilich ganz abenteuerlich, hat aber sicher eine sehr natürliche Lösung.«
»Die aber bis jetzt noch kein Mensch gefunden hat,« flüsterte die Frau; »es ist meiner eignen Mutter widerfahren, und ich habe es nicht allein aus ihrem Munde, sondern auch die Bestätigung, wenn es deren überhaupt bedurft hätte, oft von meiner Tante gehört, die als Kind dabei gewesen war, und sich der einzelnen Umstände noch recht gut erinnerte.«
»Und wären Sie wohl so freundlich, uns die Geschichte mitzutheilen?« frug der Verwalter und rückte seinen Stuhl etwas näher zum Tisch; »es wäre möglich, daß ich durch etwas Aehnliches die Existenz solcher Ahnungen ebenfalls zu bekräftigen vermöchte.«
»Die Sache ist einfach genug,« erzählte die Pastorin; »wir waren unser drei Geschwister, ich, ein älterer Bruder und noch eine jüngere Schwester, und die Großmutter vor etwa acht Wochen gestorben, als meine Mutter, die sich allerdings damals noch in einem sehr aufgeregten Zustande befand, träumte, sie schaute am hellen Nachmittag aus dem Fenster. Da ging die Hofthür auf und herein kam, in demselben Kleide wie sie im Sarg gelegen, ihre Mutter, schritt langsam durch den ganzen Hof und stieg dann die Leiter hinauf, die zu dem Heuboden führte.
»Wie man nun so im Traume ist, so scheint auch meine Mutter gar nichts Außerordentliches in dem Wiederkommen der Todten gesehen zu haben, nur daß diese, was sie im Leben nie gethan, auf den Heuboden stieg, fiel ihr auf. Trotzdem sprach sie kein Wort und die Mutter kam denn auch bald wieder zurück und hatte ein Heubündel unter dem Arm. Damit stieg sie die halbe Leiter hinunter, blieb plötzlich stehen, drehte dann wieder um und holte sich noch ein zweites.
»Ei um Gott, Mutter,« rief die Träumende da, und streckte die Arme nach ihr aus, »ist denn das eine nicht genug?«
»Ja, sagte die Todte und stieg langsam nieder, ich bringe Dir das andere wieder zurück« – und aus der Hofthür verschwand sie, wie sie gekommen.
»Mein damals etwa vierzehnjähriger Bruder war ein ausgezeichneter Harfenspieler, und übte sich besonders in jener Zeit Tag und Nacht; um es zu noch immer größerer Fertigkeit zu bringen, hatte er sich aber wohl darin übernommen, oder lag der Keim der Krankheit schon in ihm, kurz, wenige Tage nach diesem Traume wurde er, sonst ein kräftiger, gesunder Knabe, krank, und sah sich bald durch das hitzigste Nervenfieber auf sein Lager geworfen. Fünf Tage später legte ich mich ebenfalls mit demselben Uebel, mein Bruder aber starb am neunten Tage, und in dem Augenblicke, wo er im Todeszucken lag, rissen plötzlich alle Saiten seiner Harfe. – Mich brachte die Großmutter wieder – ich genas nach kurzer Zeit.«
»Die Harfe hat hinter dem Ofen gestanden,« brach der Pastor rasch eine feierliche Pause; »das Gestell kann sich gezogen haben und da mußten wohl die Saiten mit einem Male springen.«
»Die Erklärung mag wohl ganz gut und natürlich klingen,« sagte der Schulmeister endlich, »ich sehe aber wirklich nicht ein, weshalb wir uns Alles natürlich erklären müssen – Du lieber Gott, unser Aller Leben ist so arm, so entsetzlich arm an jeder Poesie, daß ich denken sollte es hätte sogar etwas Wohlthuendes, einmal einen Gegenstand zu finden, den man nicht recht begreifen kann. Ich weiß mich noch recht gut daran zu erinnern, wie ich als Kind fest und heilig glaubte der Storch bringe die Kleinen, und das Christkindchen die schönen Sachen zu Weihnachten; wie ich mich vor dem Knecht Ruprecht fürchtete und die heiligen drei Könige ehrfurchtsvoll anstaunte – und einmal im Theater – der Abend wird mir unvergeßlich bleiben, da sah ich ein Stück, das hieß die Kreuzfahrer, und etwas derartiges war mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Ich weinte und lachte den ganzen Abend und träumte ein volles Jahr von weiter nichts, als tapfern edeln Rittern, braven Türken, unglücklichen Türkenmädchen und bösen Aebtissinnen. Das Stück übte auch merkwürdiger Weise einen ganz eigenthümlichen Einfluß auf mein künftiges Leben aus; ich schwärmte für die altadeligen Geschlechter der tapfern Ritter, und bekam einen ordentlichen Haß auf die katholische Religion, die den Mißbrauch der Klöster dulden konnte.«
»Jetzt ist das ganz, ganz anders geworden – ich halte die Störche für sehr gewöhnliche Zugvögel, die von Fröschen und anderem Zeug leben, und sich keineswegs mit Kindertransport beschäftigen