Dem Kinderritt folgte ein imposanteres Schauspiel: ein Turnier, in einer Art von Pantomime, in der sich zwei Ritter um den Besitz der schönen Georgine stritten. Monsieur Bertrand war einer von diesen, und in voller Rüstung, mit geschlossenem Visier und eingelegter Lanze, warf er in wirklich prachtvollem Rennen seinen Gegner in den Sand. Dann, mit abgeworfenem Helm, hielt er an der Seite der erbeuteten Schönen seinen Siegesritt um die Arena, und die Buketts flogen jetzt von allen Seiten dem lieblichen Ritterfräulein zu. Eins der Buketts hatte die schöne und kecke Reiterin selber vom Boden aufgehoben, und es hoch in der Hand haltend, schwang sie sich damit unter dem Beifallsjauchzen der Menge wieder auf ihr Pferd, während dieses, bei dem Schmettern der Trompeten, in wilder Flucht die Arena umschnaubte. Der Ritter konnte sich kaum an ihrer Seite halten, und immer wilder, immer toller hieb er auf das schäumende Tier ein, es noch zu stärkerem, rasenderem Laufe anzutreiben. Wieder kam es Melanie da vor, als ob ihr Blick, so oft die tolle Jagd an ihnen vorüberbrauste, den Nachbar suche und finde. Grüßend neigte sie sich gegen ihn und jetzt – als sie ihren Zelter mitten in vollster Flucht herumriß, die Arena, dem Ausgange zu, quer zu durchfliegen, warf sie die linke Hand, in der sie die Blumen hielt, empor, und der Strauß – ob absichtlich oder zufällig nach dieser Richtung getrieben – fiel im nächsten Augenblicke zu den Füßen des jungen Grafen nieder. Fast in demselben Moment war auch die Schöne, über die Bahn hinweg, verschwunden, und Melanie sah zu dem Rittmeister empor, dessen Antlitz Totenblässe bedeckte.
»Wollen Sie den Strauß nicht aufheben?« sagte sie mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme.
Der Rittmeister bückte sich, aber er tat es wie in einem Traume, und die Blumen aufgreifend, hielt er sie fast bewußtlos seiner Nachbarin hin.
»Sie befehlen, Komtesse?«
»Ich danke Ihnen, Herr Graf!« erwiderte jedoch die junge Dame mit so auffallender Kälte im Tone, daß Graf Geyerstein erstaunt sie ansah. »Die Blumen sind ohne Zweifel dorthin gelangt, wohin sie bestimmt waren, und ich möchte Sie derselben nicht berauben – würde ich überhaupt etwas annehmen, was einer – Kunstreiterin zugeworfen ist.«
»Komtesse?«
»Sie haben jetzt Gelegenheit, Ihr Bukett wieder zu verwerten,« sagte das schöne und, wie es schien, beleidigte Mädchen. In der Tat erschien Georgine in diesem Augenblick wieder auf den donnernden Hervorruf der Menge, während ihr aufs neue von allen Seiten Blumen entgegenflogen. Graf Geyerstein war aber durch die Worte Melanies so überrascht worden, daß er das Bukett unschlüssig in der Hand behielt, bis die schöne Reiterin die Arena verlassen hatte.
Wieder sprang jetzt der Bajazzo mit seinen gliederverrenkenden Künsten in die Arena, nachdem die Bahn vorher von den hineingeworfenen Blumen gesäubert worden, und zwei andere junge Damen, Mademoiselle Amelie und Leontine, waren ebenfalls noch in dem Programm angeführt. Komtesse Melanie hatte durch den Lärm der Trompeten Kopfschmerzen bekommen, und obgleich sich die jüngere Schwester dem nur ungern fügte, bat doch die Mutter den Grafen, ihren Wagen vorfahren zu lassen. Zehn Minuten später verließ die Familie des Kriegsministers von Ralphen, vom Grafen Geyerstein natürlich begleitet, den Zirkus, um nach Hause zurückzukehren.
3
Der nächste Tag war ein Sonntag. Reges, bewegtes Leben herrschte in der Residenz, wo einesteils die gerade abgehaltene Messe eine Menge von Landleuten und Fremden in die Stadt gelockt hatte, während zugleich, zur Geburtstagsfeier des Fürsten, große Parade abgehalten wurde. Equipage um Equipage fuhr langsam durch das Gedränge der Straßen, dem Landesherrn zu diesem Tage die Glückwünsche des Hofes und der Beamten, ja des ganzen Volkes zu bringen. Der Rittmeister von Geyerstein sah sich den Morgen über durch seinen Dienst teils auf der Parade, teils bei Hofe gefesselt und kam erst gegen zwei Uhr nach Hause, während er um fünf schon wieder zur Tafel befohlen worden. Zum nicht geringen Erstaunen seines Burschen kleidete er sich aber, so wie er zurückkehrte, um und in Zivil, und während dieser, immer dabei mit dem Kopfe schüttelnd, die verschiedenen nötigen Gegenstände herbeibrachte, sagte sein Herr: »Hast du mir die Wohnung gefunden, wie ich dir aufgetragen, Karl?«
»Zu Befehl, Herr Rittmeister – die von dem Seiltänzer, meinen Sie doch?«
»Von Monsieur Bertrand.«
»Sehr wohl. Rosenstraße Nummer 47, zweiter Stock, erste Türe rechts.«
»Rosenstraße? – wo ist die Rosenstraße? die kenne ich gar nicht.«
»Gleich am Landgrafenplatz, zu Befehl, die kleine Gasse, die hinter der Bude hineinläuft. Nummer 47 ist das rechte Eckhaus, aber der Eingang in der Gasse drin. Das Haus selber heißt auch die Rose und war früher ein Hospital, ist aber jetzt ein Wirtshaus, und die Kunstreiter kehren gewöhnlich dort ein, weil ihnen die Ställe unten bequem liegen und der Mann, dem das Haus gehört, auch Futter und Streu zu verkaufen hat.«
»Es ist gut, du – kannst mir eine Droschke holen.«
»Herr Rittmeister halten zu Gnaden, um fünf Uhr Tafel.«
»Ich weiß es – bis dahin bin ich wieder zurück. Du gehst mir indessen nicht fort und hältst alles bereit.«
»Sehr wohl, Herr Rittmeister!«
Wenige Minuten später rasselte die Droschke über das Pflaster und hielt vor der Türe.
»Wohin?« fragte der Kutscher.
»Landgrafenplatz!« und fort klapperte das Fuhrwerk, der bezeichneten Richtung zu.
Am Landgrafenplatz angekommen, schaute der Kutscher in das vordere Fenster hinein, zu erfahren, ob er sich rechts oder links halten müsse. Eine Handbewegung des Fahrenden wies ihn zurecht, und in der Nähe der kleinen Straße angekommen, stieg der Rittmeister aus. Er wollte nicht vor dem Hause mit dem Wagen halten. Den bezeichneten Platz fand er ohne alle Schwierigkeit. Die Beschreibung des Burschen war genau gewesen, und er betrat gleich darauf einen dunkeln, schmutzigen Hausflur, in dem sich nur ein paar Pferdeknechte herumtrieben und mit dem hindurchgehenden Hausmädchen schäkerten. Einige Schwierigkeit hatte es, die Treppe in den zahlreichen Einschnitten des alten Gebäudes zu finden, die zu ebenso vielen Keller- oder Stubentüren, bald mit Stufen abwärts, bald aufwärts, führten. Endlich fand er aber die schmale, hölzerne Stiege, der er, ohne weiter jemandem zu begegnen, bis in die zweite Etage folgte. Die ihm von seinem Burschen bezeichnete erste Türe rechts trug eine daran geheftete Visitenkarte, und als er näher trat, las er die mit feiner, zierlicher Schrift gestochenen Worte: »George Bertrand.«
»Georg,« flüsterte der Rittmeister leise vor sich hin, und zögernd, unschlüssig hob sich seine Hand nach dem Drücker. Sollte er anklopfen? – aber die Zeit verging, und im nächsten Augenblicke tönte ihm schon ein lautes »Herein!« aus dem Zimmer entgegen.
Ohne sich länger zu besinnen, öffnete er die Türe und überraschte hier eine Dame, die sehr ungeniert und in tiefstem Negligé auf dem Sofa lag, auch nur langsam den Kopf nach dem Eintretenden umdrehte. Kaum aber erkannte sie, daß es ein Fremder sei, als sie auch blitzschnell aufsprang und wie ein Schatten durch die dicht daneben befindliche Türe huschte. Verlegen, hier so gestört zu haben, sah sich der Rittmeister im Zimmer um und entdeckte jetzt erst in der anderen Ecke, dicht am Fenster, noch eine andere Persönlichkeit, einen älteren Mann, der ihn mit eben nicht freundlichem Blick und etwas vorgebogenem Kopfe über eine Klemmbrille hinüber betrachtete.
»Suchen Sie jemanden?« fragte er dabei mit heiserer Stimme.
»Herrn Bertrand. Ist er zu Hause?«
»Nein.«
»Wann kann ich ihn treffen?«
»Weiß ich nicht. Was wollen Sie?«
»Ich möchte ihn sprechen.«
»Müssen Sie morgen wiederkommen – heute hat er keine Zeit,« brummte der Alte, der, wie der Rittmeister jetzt erst sah, mit einer kurzen Pfeife im Munde, eine Hanswurstjacke auf den Knieen liegen hatte und beschäftigt schien, sie mit Nadel und Zwirn auszubessern.
»Ich bitte den Herrn, ein klein wenig zu warten – ich komme den Augenblick,« rief da die Stimme der Dame aus dem Nebenzimmer,