Die Szene wechselte jetzt, und der Bajazzo übernahm die Unterhaltung des Publikums aufs neue durch halsbrechende Kunststücke und Gliederverrenkungen. Aber das Publikum wollte sich amüsieren; die übersättigten Bewohner der Residenz verlangten einen neuen Reiz für ihre abgespannten Nerven – und diese atemlose Angst um ein Stück wertlosen Menschenlebens gewährte ihn. Ein Mulatte beschloß die erste Abteilung durch groteske Sprünge und gymnastische Uebungen, die er mit seinem Pferde ausführte. Wie eine Schlange wand und schnellte er sich im vollen Rennen seines Tieres darüber hin. All die verschiedenen und schwierigsten Piecen führte er aber mit solcher Leichtigkeit aus, und war dabei in jeder seiner noch so gewagten Bewegungen so sicher, daß sich das Publikum unmöglich für ihn interessieren konnte. Es sah eben keine Gefahr dabei und die Szene vorher hatte es verwöhnt.
Eine kurze Pause folgte jetzt, in der selbst die ebenso unermüdlichen wie erbarmungslosen Musiker ihre gequälten Instrumente für eine Viertelstunde ruhen ließen. Das Trommelfell der ihnen zunächst sitzenden Zuschauer vibrierte aber eine ganze Weile fort, als ob sich die aufgewühlten Schallwellen des hohen Raumes noch nicht beruhigt hätten. Die Trompeter gossen dabei ihre Instrumente aus und ließen ihre Bierkrüge füllen, wechselten die Notenblätter, um eine andere Nummer aufzulegen, und nahmen dann ihre Sitze wieder ein, beim ersten gegebenen Zeichen mit schmetterndem Tusch und lustiger Fanfare bereit zu sein.
Ein Teil des Publikums, besonders alle solche, die den Ausgang leicht erreichen konnten, ohne die hinter ihnen sitzenden Damen zu sehr zu inkommodieren, strömte hinaus an das Büffet und fand dort nicht allein Erfrischungen in Masse, sondern auch – Buketts, Kränze und Zuckertüten, für die der vortrefflich spekulierende Restaurateur Sorge getragen. Die Blumen für die Damen, das Zuckerwerk für die Kinder! Die jungen Kavaliere kauften in Masse, und das Büfett machte ausgezeichnete Geschäfte. Unter den zurückgebliebenen Zuschauern entspann sich indessen eine lebhafte Unterhaltung über das Gesehene, und besonders schien Monsieur Bertrand auf die Damen einen für ihn nur schmeichelhaften Eindruck hervorgebracht zu haben. Die jüngeren besonders – vielleicht weniger zurückhaltend als die älteren – schwärmten für ihn, und Komtesse Rosalie erklärte, daß sie kaum die Zeit erwarten könne, in der er wieder erscheinen würde.
»Und was halten Sie von Monsieur Bertrand, Herr Rittmeister?« wandte sich da Melanie an ihren auffallend schweigsamen Nachbar. »Als so vortrefflicher Reiter werden auch Sie ihm Ihren Beifall kaum versagen können.«
»Allerdings nicht, Komtesse,« erwiderte der junge Mann, »es ist eine edle, männliche Gestalt und – er reitet untadelhaft.«
»Wie ernst er aber aussieht und was für dunkle, seelenvolle Augen er hat! Ich kann mir kaum denken, daß er wirklich zum Kunstreiter – und noch schlimmer – zum Seiltänzer erzogen ist, denn mit seiner Erscheinung würde er jeden Platz in der menschlichen Gesellschaft ehrenvoll ausfüllen.«
»Ich glaube auch,« sagte der Rittmeister leise, fast wie mit sich selber redend. »Wer weiß, welche unglücklichen Verhältnisse ihn gerade in diese Bahn getrieben!«
»Und doch fühlt er sich vielleicht vollkommen glücklich darin,« warf Melanie ein. »Wir dürfen andere nicht immer nach uns selber beurteilen. Eine andere Erziehung gibt dem Menschen doch auch sicher andere Ansichten über das Leben, und jeder hält die seinigen gewiß immer für die richtigen.«
»Sein Ernst widerspricht dem,« entgegnete Graf Geyerstein. »Eher glaub' ich, daß sich die Dame glücklich in ihrem Berufe oder – ihrer Kunst fühlt – wenn wir es so nennen wollen.«
»Es ist seine Frau?« sagte Melanie, leicht hingeworfen.
»Ich glaube wohl – ich weiß es nicht,« erwiderte der Graf. »Sie trägt, dem Zettel nach, wenigstens seinen Namen.«
»Vielleicht seine Schwester.«
»Der Zettel sagt Madame Bertrand.«
»Die Kleine kann aber kaum ihre Tochter sein; die Frau sieht dafür zu jugendlich aus. Wo sind Sie früher schon mit ihnen zusammengetroffen?«
»Ich?« fragte der Rittmeister, »so viel ich mich besinnen kann, habe ich die Gesellschaft heute zum ersten Male gesehen.«
»Sagten Sie mir nicht heute morgen, daß es eine alte Bekanntschaft sei?« fragte die Komtesse, und ihr Blick haftete dabei forschend auf den Zügen ihres Nachbars.
»Ich wüßte nicht, Komtesse,« erwiderte der Graf. »So viel ich mich entsinne, sprach ich von einer Aehnlichkeit, und das begegnet uns ja oft im Leben, daß uns die Züge eines sonst vollkommen fremden Menschen irgend eine Erinnerung aus früheren Zeiten wecken, so wenig er selber auch mit ihnen im Zusammenhange steht. Ist Ihnen das noch nie vorgekommen?«
»Mir? – ja, o ja. Ich habe mich dann geirrt. Ich glaubte, Sie sprächen von einer alten Bekanntschaft. Aber die Vorstellung beginnt wieder. Jene schrecklichen Menschen da oben in den alten, uniformierten Jacken nehmen ihre Marterinstrumente wieder zur Hand. Mir wirbelt der Kopf schon ordentlich von dem furchtbaren Lärm. Ob man uns damit einen Genuß bereiten will?«
»Täuschen Sie sich darüber nicht, Komtesse,« lächelte der Rittmeister. »Was jene Leute Musik nennen, ist meist nur ein für die Pferde bestimmter, taktmäßiger Lärm, den sie vollführen. Schwiegen sie still, so würden auch die Tiere ihre Kunststücke nicht ausführen, zu denen sie den geräuschvollen Takt notwendig brauchen. Daß die Zuschauer gewöhnlich glauben, die Musik würde ihretwegen gemacht, ist ihre eigene Schuld.«
»Dann werde ich mich künftig nicht mehr darüber beklagen,« lächelte Melanie. »Aber da beginnen sie wirklich ihre Pferdemusik schon von neuem, und jener gräßliche Gliederverrenker scheint seine Künste ebenfalls wieder produzieren zu wollen. Sehen Sie nur, Herr Graf, was dieser Bajazzo für ein fataler Mensch ist. Ein frecheres, widerlicheres Gesicht ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. – Ob der Mann auch Familie hat?«
»Und warum nicht?« erwiderte der Rittmeister. »In seinen Kreisen glänzt er vielleicht sogar.«
»Und glauben Sie wirklich, daß sich ein Mädchen in solch ein – Geschöpf verlieben kann?«
»Komtesse,« sagte achselzuckend der Rittmeister, »in jenen Kreisen kommt es oft auf Liebenswürdigkeit oder ehrenvolles Brot nicht an. Sobald der Mann nur eben sein Brot hat – sobald er imstande ist, eine Frau vor Mangel zu schützen – denn mehr verlangen solche Leute selten – sobald hat er auch Anspruch darauf, als gute Partie betrachtet zu werden – betrachtet er sich doch selber dafür. In welcher Achtung er bei seinen Nachbarn oder gar den höheren Schichten der Gesellschaft steht, was liegt ihm daran! Solange das Publikum, dem er seine Späße vormacht, darüber lacht, solange ihn sein Brotherr dafür bezahlt, solange er ein Mann ist, der seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft, gleichviel, wie – ausfüllt: so lange hat er eben sein Brot. Hört das einmal auf, bricht er einen Arm oder ein Bein oder wird er sonst zum Krüppel, vielleicht gar krank – dann ist er eben verloren. Dann macht er Kollekten oder schickt die Frau betteln – aber das alles liegt für ihn noch in der Zukunft – liegt weiter als der nächste Tag, und was sollte er sich jetzt schon deshalb Sorge machen?«
»Ein fürchterliches Leben!« sagte die Komtesse, zusammenschaudernd, »und doch klingt es, als ob es wahr sein könnte. Wo haben Sie nur einen so tiefen Blick in diesen Abgrund des Elends getan, Graf?«
»Guter Gott,« sagte der Rittmeister, »ein Soldat verkehrt mit allerlei Ständen, und ohne daß wir es wollen oder suchen, wendet uns oft das Leben auch seine dunkeln Seiten zu.«
Wüstes Geschrei und Jauchzen unterbrach ihr Gespräch, denn Bajazzo hatte die zweite Abteilung auf einem Esel eröffnet, mit dem er in die Arena sprengte. Auf dem Rücken des Tieres suchte