Hann Klüth: Roman. Georg Engel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Engel
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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Strumpf nestelte. In diesem Augenblick nahte sich ein junger, schlanker Student, Jahn mit Namen, derselbe, der vorhin das Hurra auf diese jüngste Tänzerin kommandiert hatte, und streckte einfach die Arme nach ihr aus.

      Schon berührten seine Finger die Schulter der Gebückten, als Bruno sich nicht mehr mäßigen konnte. Er riß sie empor, daß sie förmlich in die Höhe zuckte, beide flogen von der heftigen Bewegung die wenigen Stufen hinunter, und dann – hatte er begonnen oder Line?

      Keiner wußte es später.

      Aber die schlanken Arme, mit denen sie ihn unwillkürlich umschlungen, löste sie nicht, und dann war es Bruno, als ob alles um ihn herumwirbele. Die Wärme, die heiße Glut, dieser erste Lebenstaumel des jungen Wesens an seiner Brust hatten es ihm angetan – ! Er tanzte! – Nein, er riß sie rasend mit sich fort. Er sah nichts als die aufblitzenden Augen und die weißen Zähne, die hinter den schmalen Lippen glänzten. Immer herum – immer weiter, wenn es ihm auch war, als ob er über spitze Messer tanze, wenn ihm auch eine flüchtige Erscheinung kam, als stände sein Bruder Hann draußen an den Fensterscheiben und stiere blöden Sinnes herein. Schneller, wilder, dieses sich immer gleichbleibende, beglückte Lächeln der Tänzerin berauschte ihn und hetzte ihn weiter.

      »Oh,« murmelte Line, »noch länger – noch länger.«

      »Ja – ja.«

      »So gut wie du tanzt doch keiner, Bruno.«

      »Aber du auch – du auch, Line.«

      »Ja, das hab' ich gelernt,« flüsterte sie stolz, während sie ihn leise in den Arm kniff.

      Doch ehe er noch antworten konnte, kam das, was ihn zur Besinnung brachte, vor dem er floh, als hätte er ein Verbrechen begangen.

      Wie eine Erscheinung, unvorhergesehen, stand es da.

      Leise, aber entsetzt schrie Line auf.

      Was war das für eine breite, nasse Hand, die sich auf ihren Arm legte? – Weshalb stürzte plötzlich ihr Tänzer fort, als ob er sich verfolgt wähne?

      Wer war das eigentlich, der sie festhielt und mit ihr sprach?

      Erst mußte sie sich die Haare aus der Stirn streichen, eh sie ihn erkannte. Dann blickte sie sich wirr im Saale um. Ihr Herz begann krampfhaft zu pochen, eine schneidende, überwältigende Angst durchfuhr sie.

      Wie kam sie denn hierher? – All die fremden Leute? Die Fischerweiber, die mit Fingern auf sie zeigten, und die Studenten, die so vertraut mit ihr taten?

      Zitternd und zerknirscht blieb sie vor dem Schifferjungen in dem nassen Rock stehen. Der sah sie mit seinen dumpfen blauen Augen bekümmert an und sagte mit kaum merklichem Vorwurf: »Ich such' dich, Lining.«

      »Hann,« stotterte sie.

      Da faßte er sie fester am Arm und meldete ernsthaft: »Ich soll dich nach Haus bringen.«

      »Ja – ja,« stieß sie scheu hervor, während sie sich an ihn drängte: »O komm bloß, ich will mit dir.«

      Er ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, bevor sie es selbst recht bemerkte, hatte er sie aus dem tabakdurchqualmten Saal geleitet und führte sie nun durch die stockfinstere Nacht.

      »O Lining,« murmelte er nur einmal mit tiefem Kummer, »was hast du gemacht?«

      Hastig atmete sie auf. »Ich weiß auch nicht,« brachte sie dumpf hervor, aber dann setzte sie halb voll Angst hinzu: »Aber ich glaub', es kommt davon, weil ich so wenig gelernt hab'.«

      »Ja, ja, das mit dem Lernen,« stimmte Hann beklommen bei.

      Er dachte immerfort daran, wie sein feiner Bruder, der doch morgen in die Welt sollte, und dies kleine Mädchen zusammen getanzt hatten, getanzt, während der alte Lotse in seiner Grube kaum kalt geworden.

      Das war greulich.

      Aber er sprach darüber kein Wort. Etwas Unbestimmtes, Ängstliches hielt ihn von der Schwester fern.

      Endlich waren sie an der Seite des murmelnden Flusses bis vor die Tür des Lotsenhäuschens geschlichen.

      »Hann,« begann Line hier, der das Schweigen Pein verursachte, »wacht Mutter noch?«

      Er schüttelte das Haupt.

      »Bist du allein auf?«

      Er nickte.

      »O Hann« – sie drängte sich in ihrer schmeichelnden Art an ihn – »sprich doch mit mir – ich will's ja nie wieder tun, hörst du? – aber sprich mit mir.«

      Wieder schüttelte er das plumpe Haupt. Ihm war so trostlos zumut, daß ihm keine Worte einfielen. Da wurde die bohrende Verzweiflung in Lines Brust übermächtig, heftig sprang sie an dem Jungen in die Höhe und drückte ihm einen heißen, bittenden Kuß auf den breiten Mund. »Ich will's ja nie wieder tun,« hauchte sie dazu, »ganz gewiß, nie wieder – aber sag hier zu Haus nichts davon, hörst du? – sag kein Wort.«

      Noch stand sie einen Augenblick vor ihm. Durch die tiefe Nacht glaubte er das Weiße ihrer Augen zu erkennen. Dann hörte er etwas über die Treppe huschen, und über die Stelle, wo sie gestanden, säuselte der Nachtwind.

      Es war stockfinster und Hann auf der Landstraße allein.

      Da senkte der dumme Junge langsam den Kopf in seine groben Hände und begann unhörbar vor sich hinzuschluchzen.

      XI

      Zur selben Zeit saß Line im Hemd auf ihrem Bette.

      Die nackten Füße ließ sie hinabhängen, die Hände hielt sie auf dem Schoß krampfhaft ineinandergefaltet, und so bohrte sie ihren Blick unverrückbar auf die nahe Bretterwand des Verschlages, als wäre dort in der Schwärze irgendeine helle Stelle und sie vermöchte auf ihr etwas Merkwürdiges zu erspähen. Sie fror nicht, sie zitterte nicht, aufgerichtet und mäuschenstill hockte sie, und alle ihre Gedanken schienen sich wie Pfeile in ein einziges Ziel einzuspießen.

      Endlich seufzte sie tief auf, griff nach dem Stuhl, auf dem ein Lichtstümpfchen stand, und entzündete es. Behutsam hielt sie die Hand vor das Flämmchen, so daß ihre Finger wie in Blut getaucht erschienen, und schlich dann verstohlen mit ihren nackten Füßen in die Ecke hinter dem Bett, in der eine ehemalige Zuckerkiste stand.

      In diesem Behälter wühlte Line heftig herum. Bald holte sie ein paar alte Bücher und einige vollgeschriebene Schreibhefte heraus, bald blätterte sie emsig in einem zerrissenen Volksschulatlas, immer erregt dazu murmelnd und buchstabierend. Zum Schluß band sie um alles einen Bindfaden und schlug leicht mit der Faust auf das Päckchen, als hätte sie einen festen Entschluß gefaßt.

      Den Atlas aber behielt sie bei sich, eng an den Leib gedrückt. Und als sie ins Bett huschte, legte sie die verstreuten Blätter erst sorgfältig unter ihr Kopfkissen.

      Licht aus.

      Still lag sie da, lang ausgestreckt, die großen Augen weit offen, nur ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten, daß sie lebe.

* * *

      »Das ist ein ekliger Qualm,« hustete Siebenbrod und spie ein paarmal aus, »pfui Deibel.«

      »Ja, das is, wie wenn Satans Großmutter verbrannte Milch auf die Erde gießt,« brummte oll Kusemann, dessen Konturen ebenfalls zuweilen durch den weißen Brodem sichtbar wurden. Manchmal schien es auch, als tanzten die Köpfe von Malljohann und Frau Dörthe Petersen um ein paar Pferdeschnauzen herum, doch alles verschwand gleich wieder hinter dem feuchten, bleiernen Linnen.

      Da brummten Glockenschläge aus der Höhe, und durch die Nebel ging ein Zittern.

      Acht Uhr.

      Die Equipagenpferde des Konsuls wieherten laut und durchdringend.

      »Mudding – nu mach fix,« mahnte Siebenbrod. »Nu mußt du die Hände von Bruno und Paulen loslassen.«

      Doch die kleine, stille Frau konnte sich noch nicht trennen. Immer wieder griff sie nach den Fingern ihrer beiden Ältesten, die nebeneinander auf dem leichten Korbwagen saßen, und nur die milchigen Gespinste verhinderten, daß nicht alle bemerkten, wie dicke, schwere Tränen über die Wangen der Witwe rollten.

      »Mudding,«