Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Beginn desselben; wir mußten uns also sputen und gingen hinüber. Der Aufwärter hatte nicht zu viel gesagt, wenigstens was das Publikum betraf. Auch der »Saloon« war ein Brettergebäude; er hatte einen solchen Umfang, daß wohl sechshundert Menschen sitzen konnten, und doch waren nur noch wenige Stühle frei, welche ganz hinten standen. Wir setzten uns auf zwei derselben.
Schon nach wenigen Minuten waren auch die übrigen besetzt, und die vielen Menschen, welche dann noch kamen, mußten in den Zwischenräumen und Gängen stehen. Es war keine Bühne vorhanden; man hatte ein Podium errichtet, auf welchem ein Flügel stand. Daneben war ein kleiner Raum durch Vorhänge für die Künstler abgesondert.
Als das Zeichen zum Beginn gegeben wurde, traten letztere auf das Podium. Ja, sie waren es, Franz Vogel mit seiner Schwester, der einstigen Punktiererin. Er hatte die Violine in der Hand, und sie setzte sich an das Instrument, ihn zu begleiten. Er spielte ein Bravourstück, und ich hörte, daß er gegen früher ganz bedeutende Fortschritte gemacht hatte. Martha saß so, daß ich sie im Profile sah. Sie hatte sich jetzt vollständig entwickelt und war noch schöner geworden. Der Kummer, die Leiden der letzten Jahre hatten ihr Gesicht durchgeistigt und ihren Zügen einen wehmütigen Ernst aufgeprägt, der mich mit Wehmut erfüllte. Beide zogen sich nach dem ersten Stücke zurück.
Die zweite Nummer war für Martha, und Franz begleitete. Sie sang eine spanische Romanze, und zwar so vortrefflich, daß sie dieselbe wiederholen mußte. Sie hatte keinerlei Toilettenkünste angewendet und trug ein langes, schwarzes Kleid, welches hoch und eng am Halse anschloß. Ihr ganzer Schmuck bestand aus einer einzigen Rose im Haare. Die Geschwister teilten sich in das Programm, wechselten einander nach jeder Nummer ab und begleiteten sich gegenseitig.
Martha sang hernach zwei Hochlandslieder, eine spanische Serenade, und dann folgte das prächtige deutsche Lied:
»Ich sah dich nur ein einzig Mal, Da war‘s um mich geschehen; Ich fühlte deiner Augen Strahl Durch meine Seele gehen.«
Ja, das war deutsche Innigkeit und Gemütstiefe. Solche Lieder kann nur Deutschland haben. Der größte Teil des Publikums verstand kein Wort des Textes, und doch folgte ein Applaus, daß das Gebäude zu zittern schien. Die Sängerin mußte zwei Strophen wiederholen.
Winnetou hatte natürlich Franz Vogel erkannt. Er fragte mich jetzt:
»Will mein Bruder nicht einmal hingehen, um zu fragen, wo sie wohnen? Wir müssen doch mit ihnen reden.«
Er hatte recht. Die Künstler traten heute zum letztenmal auf; vielleicht reisten sie schon morgen ab; ich mußte mit ihnen sprechen. Ich stand also von meinem Stuhle auf, um zu ihnen zu gehen. Dabei mußte ich mich durch die auf dem Gange stehende Menge drängen, was die Augen auf mich zog. Da hörte ich den erschrockenen, halblauten, aber doch vernehmlichen Ausruf:
»All devils! Du, das ist ja Old Shatterhand!«
Ich blickte nach der Stelle, wo die Worte erklungen waren. Da saßen zwei Männer nebeneinander, welche breite Sombreros trugen. Unter den riesigen Krämpen waren nur die dunklen Vollbärte zu sehen, und als sie bemerkten, daß ich hinsah, drehten sie sich auf die Seite. Das fiel mir auf; aber die Nennung meines Namens hatte vieler Blicke auf mich gerichtet; das genierte mich, und darum ging ich weiter.
Die Geschwister befanden sich während der Pausen hinter dem Vorhange. Ich blieb vor demselben stehen und fragte deutsch:
»Ist es einem Bekannten erlaubt, Zutritt zu nehmen?«
Da wurde der Vorhang geöffnet; ich trat hinein und stand vor ihnen.
»Wer – wer – was – — Sie, Sie sind es?« fragte Franz, indem er vor Ueberraschung zwei Schritte zurückwich.
»Herr Doktor!« schrie Martha auf. Es war mir, als ob sie wankte; ich machte eine Bewegung, sie zu stützen; da faßte sie meine Hände und küßte sie, ehe ich es zu verhindern vermochte, und brach dabei in ein lautes Schluchzen aus. Ich führte sie zum Stuhle, drückte sie sanft auf denselben und sagte zu ihrem Bruder:
»Wie froh bin ich, zu sehen und zu hören, daß Sie sich hier befinden. Ich habe Ihnen Wichtiges zu sagen, darf Sie aber jetzt nicht stören, sondern will Sie nur fragen, wo Sie wohnen.«
»Im letzten Hause vor der Stadt am Flusse,« antwortete er.
»Darf ich Sie nach dem Konzerte dorthin begleiten?«
»Ja, ja, wir bitten Sie sehr darum.«
»Gut! Ich werde also hierher kommen, um Sie abzuholen. Winnetou ist auch hier.«
Martha hielt die Hände vor das Gesicht und weinte; ich ging, um die Aufregung abzukürzen. Als ich an die Stelle kam, wo mein Name genannt worden war, wollte ich die beiden Männer schärfer als vorher ins Auge fassen; ihre Stühle waren leer; sie waren fort. Wäre ich doch vorhin nicht weiter gegangen!
Es dauerte jetzt eine längere Weile, ehe die Geschwister wieder erschienen. Martha mußte sich beruhigen, bevor sie sich zeigen konnte. Ihr Bruder trug ein Konzertstück vor; dann sang sie. Als der rauschende Beifall verklungen war, zeigte sich das Publikum so begeistert, daß sich niemand entfernen wollte; es dauerte sehr lange, ehe der Saal sich leerte. Winnetou ging auch; er wollte mich allein mit den Geschwistern lassen, und das war mir nicht unlieb, denn wir hätten doch deutsch gesprochen, und das verstand er nicht vollständig. Als ich glaubte, annehmen zu dürfen, daß keiner der begeisterten Zuhörer mehr willens sei, der Sängerin belästigend in den Weg zu treten, begab ich mich in ihr kleines Kabinett, um sie abzuholen. Sie sagte nichts, und auch ich schwieg. Ich bot ihr den Arm, und wir verließen das Lokal- Ihr Bruder konnte nicht gleich mitkommen, da er mit dem Wirte geschäftlich zu thun hatte.
Der Abendhimmel war von jener Bläue, welche Neu-Mexiko, wo es oft während eines ganzen Jahres nicht regnet, eigen ist. Man konnte, obgleich der Mond nicht am Himmel stand, fast wie am Tage sehen. Das Haus, in welchem die Geschwister für die kurze Zeit ihres hiesigen Aufenthaltes Logis genommen hatten, lag noch eine Strecke weiter nahe am Flusse. Die Wirtin war eine Witwe spanischer Abstammung. Martha hatte nicht in einem der öffentlichen Gasthäuser wohnen wollen. Dieselben wurden zwar Hotels genannt, boten aber keine Bequemlichkeit, waren überteuer und dabei Lokale, in denen alle möglichen Menschen und Existenzen verkehrten, so daß man seiner Bequemlichkeit und Ruhe, ja selbst wohl auch seines Lebens nicht sicher war.
Der schmale, ausgetretene Pfad, den wir gingen, führte hart am Ufer des Flusses hin. Da stand allerlei Gebüsch, hinter dem dichtes Schilf aus dem Wasser ragte. Die Wirtin öffnete; sie hatte auf die Heimkehr der Geschwister gewartet und zeigte ein einigermaßen verwundertes Gesicht, als sie ihre Mitbewohnerin mit einem fremden Manne erblickte; doch sagte sie nichts und leuchtete uns eine schmale Treppe hinauf in das kleine Obergeschoß, in welchem die dreizimmerige Wohnung der beiden lag. Häuser mit einem solchen Geschoß sind in Albuquerque äußerst selten. Nachdem sie eine Lampe angezündet hatte, entfernte sie sich, doch nicht, ohne daß sie vorher von Martha erfahren hatte, daß ihr Bruder gleich nachkommen werde.
Nun saßen wir einander gegenüber. Es mußte gesprochen werden; darum wollte ich es sein, welcher begann:
»Sie wissen natürlich, daß Ihr Bruder drüben bei mir in der Heimat gewesen ist, um mir mitzuteilen, wie es bei Ihnen stand?«
»Ja. Ich bin es ja eigentlich gewesen, welcher ihm den Mut gemacht hat, sich an Sie zu wenden.«
»Gehörte solch ein Mut dazu?«
»Gewiß. Er meinte, sie würden wohl kaum bereit sein, nach allem, was früher vorgekommen war, sich unser noch einmal anzunehmen.«
»Da bin ich freilich von ihm nicht so beurteilt worden, wie es mir lieb sein würde. Uebrigens war es ja wohl Winnetou, der Sie auf mich lenkte. Oder nicht?«
»Ja. Der herrliche Mann wurde uns geradezu von Gott gesandt. Er errettete uns aus tiefer Not, und nur den Mitteln, mit denen er uns unterstützte, haben wir es zu verdanken, daß wir die Konzerttournee, auf welcher wir uns jetzt befinden, beginnen konnten.«
»Darf ich wissen, wie das geschäftliche Ergebnis ausgefallen ist?«
»Ausgezeichnet!