Ich möchte endlich einen Jungen haben,
so klug und stark, wie Kinder heute sind.
Nur etwas fehlt mir noch zu diesem Knaben.
Mir fehlt nur noch die Mutter zu dem Kind.
Nicht jedes Fräulein kommt dafür in Frage.
Seit vielen langen Jahren such ich schon.
Das Glück ist seltner als die Feiertage.
Und deine Mutter weiß noch nichts von uns, mein Sohn.
Doch eines schönen Tages wird’s dich geben.
Ich freue mich schon heute sehr darauf.
Dann lernst du laufen, und dann lernst du leben,
und was daraus entsteht, heißt Lebenslauf.
Zu Anfang schreist du bloß und machst Gebärden,
bis du zu andern Taten übergehst,
bis du und deine Augen größer werden
und bis du das, was man verstehen muss, verstehst.
Wer zu verstehn beginnt, versteht nichts mehr.
Er starrt entgeistert auf das Welttheater.
Zu Anfang braucht ein Kind die Mutter sehr.
Doch wenn du größer wirst, brauchst du den Vater.
Ich will mit dir durch Kohlengruben gehen.
Ich will dir Parks mit Marmorvillen zeigen.
Du wirst mich anschaun und es nicht verstehn.
Ich werde dich belehren, Kind, und schweigen.
Ich will mit dir nach Vaux und Ypern reisen
und auf das Meer von weißen Kreuzen blicken.
Ich werde still sein und dir nichts beweisen.
Doch wenn du weinen wirst, mein Kind, dann will ich nicken.
Ich will nicht reden, wie die Dinge liegen.
Ich will dir zeigen, wie die Sache steht.
Denn die Vernunft muss ganz von selber siegen.
Ich will dein Vater sein und kein Prophet.
Wenn du trotzdem ein Mensch wirst wie die meisten,
all dem, was ich dich schauen ließ, zum Hohn,
ein Kerl wie alle, über einen Leisten,
dann wirst du nie, was du sein sollst: mein Sohn!
Anmerkung: Da der Autor, nach dem Erscheinen des Gedichts in einer Zeitschrift, Briefe von Frauen und Mädchen erhielt, erklärt er, vorsichtig geworden, hiermit: Schriftliche Angebote dieser Art werden nicht berücksichtigt.
3 Erklären Sie die Widersprüchlichkeit der letzten Strophe.
4 Nennen und kommentieren Sie die Grundidee des Erziehungskonzepts von Erich Kästner.
5 Legen Sie die Grundideen Ihres eigenen Erziehungskonzepts dar.
1 Das Problem der Generationenverhältnisse ist das ewige Problem des menschlichen Daseins. Die maximalistische Weltanschauung von den Jugendlichen lässt sie hohe Forderungen an die Erwachsenen stellen.
2 Im vorliegenden Text wird die ältere Generation von der jüngeren zur Auseinandersetzung aufgefordert.
j-m etw. predigen – gespr; j-m immer wieder sagen, wie er sich verhalten soll
das Gehalt – das Geld, das ein Angestellter für seine Arbeit (mst jeden Monat) bekommt
mitunter – geschr; manchmal
j-n (zu etw.) bekehren – j-n dazu bringen, seine Weltanschauung zu ändern
1
Ihr seid die Ält’ren. Wir sind jünger.
Ihr steht am Weg mit gutem Rat.
Mit scharf gespitztem Zeigefinger
weist ihr uns auf den neuen Pfad.
Ihr habt das wundervoll erledigt.
Vor einem Jahr schriet ihr noch „Heil!“.
Man staunt, wenn ihr jetzt „Freiheit“ predigt
wie kurz vorher das Gegenteil.
Wir sind die Jüng’ren. Ihr seid älter.
Doch das sieht auch das kleinste Kind:
Ihr sprecht von Zukunft, meint Gehälter
und hängt die Barte nach dem Wind!
Nun kommt ihr gar, euch zu beschweren,
dass ihr bei uns nichts Recht’s erreicht?
O, schweigt mit euren guten Lehren!
Es heißt: Das Alter soll man ehren…
Das ist mitunter, das ist mitunter,
das ist mitunter gar nicht leicht.
2
Wir wuchsen auf in eurem Zwinger.
Wir wurden groß mit eurem Kult.
Ihr seid die Ält’ren. Wir sind jünger.
Wer älter ist, hat länger Schuld.
Wir hatten falsche Ideale?
Das mag schon stimmen, bitte sehr.
Doch was ist nun? Mit einem Male
besitzen wir selbst die nicht mehr!
Um unser Herz wird’s kalt und kälter.
Wir sind so müd und ohn Entschluss.
Wir sind die Jüng’ren. Ihr seid älter.
Ob man euch wirklich – lieben muss?
Ihr wollt erklären und bekehren.
Wir aber denken ungefähr:
„Wenn wir doch nie geboren wären!“
Es heißt: Das Alter soll man ehren…
Das ist mitunter, das ist mitunter,
das ist mitunter furchtbar schwer.
3 Das Gedicht stammt aus dem Jahre 1946. Was würden heute die Jungen den Älteren vorwerfen?
4 Verfassen Sie eine Antwort an Stelle der Älteren, in dichterischer Form oder in Prosaform. Übernehmen Sie dazu den Bauplan des Kästner-Textes.
1.4 Kleine Kinder, ?kleine Sorgen … …
1 Was assoziieren Sie mit der Wortverbindung „ein ideales Kind“? Gibt es viele solche Kinder auf der Welt? Waren sie einst selbst „ein ideales Kind“? Möchten Sie ideale Kinder haben?
2 Lesen Sie das Gedicht von G. Jatzek. Wie könnte der Autor die Fragen der Aufgabe 1 beantworten?
etw. knittert – etw. bekommt Falten; knitterfrei – so (weich), das es nicht knittert
stillhalten – nicht protestieren, sich nicht wehren
widerborstig – nur schwer glatt zu machen
kuschelweich – so weich (und warm), dass man die Berührung gern hat
etw. abdrehen – gespr; etw. stoppen, indem man einen Hahn schließt oder einen Schalter betätigt; abschalten, abstellen
Auf einer Haushaltsmesse wurden kürzlich
die idealen Kinder vorgestellt:
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