Solche ganz nutzlosen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er an der Türe klebte und horchte. Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür schlagen. Aber hielt er ihn aber sofort wieder fest, denn das kleine Geräusch war nebenan gehört worden und hatte alle verstummen lassen.
«Was er nur wieder treibt«, sagte der Vater nach einer Weile.
Dann wurde das Gespräch allmählich wieder aufgenommen.
Gregor erfuhr nun genug. Der Vater wiederholte sich in seinen Erklärungen. Und die Mutter verstand nicht alles gleich beim ersten Mal. Trotz allen Unglücks war ein ganz kleines Vermögen aus der alten Zeit noch vorhanden. Außerdem aber war das Geld, das Gregor allmonatlich nach Hause gebracht hatte, nicht vollständig aufgebraucht. Es hatte sich zu einem kleinen Kapital angesammelt. Gregor, hinter seiner Türe, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und Sparsamkeit. Eigentlich wird er ja mit diesen überschüssigen Geldern die Schuld des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen.
X
Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie etwa von den Zinsen leben zu lassen. Es genügte vielleicht, um die Familie ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten. Es war also bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt war. Das Geld zum Leben aber musste man verdienen.
Nun war aber der Vater ein zwar gesunder, aber alter Mann, der schon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte. In diesen fünf Jahren hatte er viel Fett angesetzt. Er war dadurch recht schwerfällig. Und die alte Mutter sollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Asthma litt. Sie verbrachte jeden zweiten Tag in Atembeschwerden auf dem Sofa beim offenen Fenster. Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren. Was ist ihre Lebensweise? Sich nett zu kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und Violine zu spielen. Wenn die Rede auf das Geld kam, ließ zuerst immer Gregor die Türe los und warf sich auf das kühle Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung und Trauer.
Oft lag er dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen Augenblick und scharrte nur stundenlang auf dem Leder. Oder er scheute nicht die große Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die Fensterbrüstung hinaufzukriechen und sich ans Fenster zu lehnen. Er wollte aus dem Fenster schauen. Denn tatsächlich sah er von Tag zu Tag die Dinge immer undeutlicher. Das gegenüberliegende Krankenhaus bekam er überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Schaute er aus seinem Fenster in eine Einöde, in welcher der graue Himmel und die graue Erde ununterscheidbar sich vereinigten? Nur zweimal sah die aufmerksame Schwester, dass der Sessel beim Fenster stand. Dann jedes Mal, nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hatte, hinschob sie den Sessel wieder genau zum Fenster.
Gregor wollte mit der Schwester sprechen und ihr für alles danken, was sie für ihn machen kann. Er litt darunter. Die Schwester suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen. Je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihr natürlich auch. Aber sah Gregor alles. Schon ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, geradewegs zum Fenster und riss es mit hastigen Händen auf. Dann blieb sie ein Weilchen beim Fenster und atmete tief. Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte sie Gregor täglich zweimal. Die ganze Zeit über zitterte er unter dem Kanapee.
Einmal, es war wohl schon ein Monat seit Gregors Verwandlung vergangen, und es war doch schon für die Schwester kein besonderer Grund mehr, über Gregors Aussehen in Erstaunen zu geraten, kam sie ein wenig früher als sonst und traf Gregor noch an, wie er aus dem Fenster schaute.
Sie trat nicht nur nicht ein, sie fuhr sogar zurück und schloss die Tür. Gregor versteckte sich natürlich sofort unter dem Kanapee. Aber er musste bis zum Mittag warten, ehe die Schwester wiederkam. Sie schien viel unruhiger als sonst. Er erkannte daraus, dass ihr sein Anblick noch immer unerträglich war. Um ihr auch diesen Anblick zu ersparen, trug er eines Tages auf seinem Rücken – er brauchte zu dieser Arbeit vier Stunden – das Leintuch auf das Kanapee. Er ordnete es in einer solchen Weise an, dass er nun gänzlich verdeckt war. Die Schwester wird ihn nicht sehen. Sie ließ das Leintuch, so wie es war. Gregor sah sogar einen dankbaren Blick, als er einmal mit dem Kopf vorsichtig das Leintuch ein wenig lüftete, um nachzusehen, wie die Schwester die neue Einrichtung aufnahm.
In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen. Er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig erkannten. Nun warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort aufräumte. Kaum war sie herausgekommen, musste sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte[63]. Vielleicht war eine kleine Besserung? Die Mutter übrigens wollte Gregor besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zurück. Gregor hörte das sehr aufmerksam zu.
Später aber musste man sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn sie dann rief:
«Laßt mich doch zu Gregor! Er ist ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, dass ich zu ihm muß?«
Dann dachte Gregor, dass es vielleicht doch gut ist, wenn die Mutter hereinkommt. Nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche. Sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die doch nur ein Kind war.
XI
Der Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während des Tages wollte Gregor auf seine Eltern sich nicht beim Fenster zeigen. Aber kriechen auf den paar Quadratmetern des Fußbodens konnte er auch nicht. Das ruhige Liegen ertrug er schon während der Nacht schwer. Das Essen machte ihm bald nicht mehr das geringste Vergnügen. So nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer[64] über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben auf der Decke hing er gern. Es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden. Man atmete freier. Ein leichtes Schwingen ging durch den Körper. Dann konnte er sich losließen und auf den Boden klatschten.
Nun hatte er natürlich seinen Körper ganz anders in der Gewalt als früher. Beschädigte er sich selbst bei einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort die neue Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte. Da wollte sie ihm helfen. Die Möbel, die es verhinderten, wollte sie wegschaffen.
Aber könnte sie dies allein nicht tun. Den Vater wagte sie nicht um Hilfe zu bitten. Das Dienstmädchen wird ihr ganz gewiss nicht helfen. So blieb der Schwester also nichts übrig, als einmal die Mutter zu holen.
Mit Ausrufen erregter Freude kam die Mutter auch heran. Aber verstummte sie an der Tür vor Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war. Dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen.
Gregor wollte nicht spionieren. Er verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen. Er war nur froh, dass sie nun doch gekommen war.
«Komm nur, man sieht ihn nicht«, sagte die Schwester.
Sie führte die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem Platze rückten. Er hörte, wie die Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte. Es dauerte sehr lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter:
«Man soll den Kasten doch lieber hier lassen. Er ist sehr schwer. Und es ist doch gar nicht sicher, dass Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen hat. Mir bedrücke das Herz