Oftmals hochgehalten wird von den Impfbefürwortern der Solidaritätsgedanke. Wenn man sich schon nicht für sich selbst impfen ließe, dann wenigstens für die anderen.41 Dieser Anspruch scheitert einerseits an der Verfassung, andererseits an dem medizinischen Wissen über die Weitergabe des Virus auch durch geimpfte Menschen. Solidarität ist ein genuin moderner Begriff, der sich auf soziale Beziehungen zwischen prinzipiell „gleichen“ Individuen bezieht. Er kann somit als Teil der historischen Verdrängung egalitärer, vertikaler Gesellschaftsformen in egalitäre oder horizontale Gesellschaftsformen verstanden werden.42 Boshammer plädiert angesichts der großteils unterschiedlichen Vorstellungen zu Solidarität im Sinne einer einzigen Solidarpflicht aufzugeben und in eine pluralistische überzuführen.43 Das scheint ein vernünftiger Vorschlag, der mit einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft in Einklang zu bringen ist. Daher, die Impfpflicht aus Solidarität einzufordern im Sinne einer einzigen Solidarpflicht, widerspricht diesem Zugang und deutet mehr auf eine totalitäre Staatform hin. Zudem kann sich die Solidarität nur zwischen gleichen Individuen verwirklichen und nicht in der politisch eingeforderten Privilegienkultur einer Zweiklassengesellschaft. Für Merkel verliert die Solidarität an Notwendigkeit, je mehr Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht sind. „Solidarität die über die soziale Gerechtigkeit hinausgeht, schulden wir nicht einander, sie entspringt altruistischen ethischen Erwägungen oder rationalen Eigeninteressen. Freiheit und Gerechtigkeit dagegen schulden wir einander.“44
Merkel versteht unter Solidarität Kooperation und Vertrauen der Zivilgesellschaft.45 Dass beides verlustig geht, dafür hat die Politik in Corona-Zeiten gesorgt, mahnt aber Solidarität ein. Das Team Austria hat in die Spaltung geführt. Hans Jürgen Papier, ehemaliger Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts, drückt den Stellenwert der Freiheit in unserer Verfassung folgendermaßen aus:
„Die Freiheit der Menschen zu befördern und die Würde des Einzelnen auch dann zu achten, wenn im Interesse anderer Menschen oder der Gemeinschaft gehandelt wird – das ist das Ziel des Rechtsstaats und seiner Gesetzgebung.“46 „Selbstbestimmung ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens.“47 Wenn die Impfpflicht in Österreich Einzug hält, dann sind die Menschen, was ihre Gesundheit anbelangt, nicht mehr selbst- sondern fremdbestimmt, die Politik achtet nicht mehr die Individualität des Menschen und damit nicht mehr die freiheitliche Grundordnung. Die oftmals eingeforderte Solidarität findet also ihre Grenze in der Würde des Einzelnen und in der Freiheit des Einzelnen. „Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet. Sie darf nur soweit beschränkt werden, als es die Rechte anderer und das allgemeine Wohl verlangen. Im Zweifel spricht die Vermutung für die Freiheit.“48 In der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten 1797 äußert Immanuel Kant: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könnte.“ Achtet eine Impfpflicht für jedermann diesen Grundsatz?
„Unsere Verfassung trifft über ihre Normen und Werte, die sich vor allem an den Grundrechten artikulieren, Grundsatzentscheidungen, die man bei der Interpretation des geschriebenen Rechts nicht außen vor lassen kann. Sonst kommt es zu Missverständnissen wie etwa bei der Behauptung, dass Gemeinnutz vor Eigennutz zu gehen habe. Wenige wissen im Übrigen noch, dass es sich dabei um eine Parole des NSDAP-Programms handelte, welche die Zentralgewalt des Deutschen Reichs verherrlichen sollte. (…) Aus dieser Fehlentwicklung entwickelte sich die Forderung: „Nur derjenige Gemeinnutz geht vor Eigennutz, der sich auf eine Gemeinschaft bezieht, die ihrerseits den Wert und die Würde des Individuums anerkennt und ihre kollektive Gestaltungsmacht an diesen quasi zurückgibt.“49 Der schlichte Verweis der Corona-Gesetzgebung, die Gesundheit stehe dermaßen über allen anderen Werten, insbesondere den Grundrechten, überzeugt aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht. Der Verweis auf die Solidarität geht ins Leere, wenn die Würde des Einzelnen nicht mehr anerkannt wird, wenn die Gleichheit der Menschen verachtet wird. Die Impfung kann keine Herdenimmunität erzeugen, insofern ist sie für den Gemeinnutz nicht erforderlich. Die ungeimpften Menschen, die es noch gibt, nunmehr dafür verantwortlich zu machen, dass sie das Gesundheitssystem überlasten, ist nicht seriös. Erstens wird statistisch nach wie vor nicht offiziell erhoben bzw. nachgewiesen, dass Ungeimpfte mehr als Geimpfte das Gesundheitssystem belasten, und zweitens wird jeder andere Risikofaktor wie „Rauchen“ auch nicht in die Solidaritätsdebatte einbezogen und bei der Belegung der Intensivbetten in die Waagschale geworfen. Wenn man am Tatsächlichen für eine unterschiedliche Behandlung festhält, dann müsste konsequenterweise ein Gesundheitspass mit allgemeinen Risikofaktoren eingeführt werden, um ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu erzielen, und um der Willkür Grenzen zu setzen. So müssten dann verschiedene Kriterien eingeführt werden, wie Adipositas, Raucherstatus, Alkoholiker, Zuckervertilgerstatus etc…Aber nur den Impfstatus herauszugreifen, und damit die Belastung des Gesundheitssystems zu geißeln, ist einseitig und gerade unsolidarisch und wissenschaftlich nicht fundiert. Die Solidarität in einer Gesundheitspolitik könnte sich nur darin erweisen, alle Gesundheitsfaktoren, die sich auf ein Gesundheitssystem potentiell auswirken, gleich zu behandeln. Im Sinne eines Bonus-Malus-Systems, wenn man schon die gesündeste aller denkbaren Gesellschaften anstrebt? Aber auch dieses wäre nur mit einer Verfassungsänderung zu bewerkstelligen.
Freiheit oder Gesundheit?
„Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren“, ist ein berühmter Ausspruch von Benjamin Franklin, einem der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung der USA. Das Wort „Sicherheit“ lässt sich wohl ohne weiteres durch „Gesundheit“ ersetzen. Wer absoluten Gesundheitsschutz zur Maxime erhebt, der macht Politik unmöglich laut Heribert Prantl.50 Der „behauptete Vorrang der Gesundheit vor der Freiheit“ wirkt verstörend.51 „Die Leute zwischen Freiheit und Gesundheit wählen zu lassen ist die Wurzel des Problems.“52 Das erste Mal, dass eine Gesetzgebung programmatisch auf die Gesundheit der Bevölkerung abzielte, war das nationalsozialistische Regime im Jahr 1933 mit dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Volkes vor Erbkrankheiten“. Daraufhin wurden 400.000 Zwangssterilisierungen durchgeführt.53 Der italienische Philosoph Giorgio Agamben warnt deshalb ausdrücklich: „Wird die Gesundheit zum Gegenstand einer zur Biopolitik gewandelten staatlichen Politik, so fällt sie nicht länger in den Verantwortungsbereich des Einzelnen, sondern wird zur Pflicht, die es um jeden Preis zu erfüllen gilt.“54 Weil die Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben dem Staat weite Handlungsspielräume lässt, „entstand in der Krise