Lösung
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Die verfassungsrechtlichen Bedenken richten sich gegen die Einbeziehung in die Sozialversicherung (I.) sowie gegen die Ausgestaltung von Beiträgen und Prämien in Sozial- und Privatversicherung in Bezug auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit (II.) sowie auf das Risiko des Alters (III.).
I. Einbeziehung in die Sozialversicherung (Art. 2 Abs. 1 GG)
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Das mit § 23 SGB XI eingeführte Versicherungsobligatorium, d.h. die Pflicht Privatversicherter, ihren Versicherungsschutz bei Krankheit auf die Pflegebedürftigkeit auszuweiten, könnte Art. 2 Abs. 1 GG verletzen. Dies ist der Fall, wenn das Obligatorium den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) berührt (1.) und deren formelle (2.) oder materielle Schranken (3.) verletzt.
1. Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG
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Das durch § 23 SGB XI für freiwillig privat gegen Krankheit Versicherte begründete Obligatorium, für den Pflegefall privatversicherungsrechtlich vorzusorgen, könnte die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzen. Diese umfasst als Auffanggrundrecht die Vertragsfreiheit als das Recht, Verträge nach autonomen Maßstäben abzuschließen.[1] In diese greift der Gesetzgeber ein, wenn er dem Einzelnen vorschreibt, wozu und wie die Vertragsfreiheit zu gebrauchen ist. Das Obligatorium gibt den gegen Krankheit Versicherten auf, auch für den Pflegefall einen dem Gesetz entsprechenden Versicherungsschutz zu begründen (§ 23 SGB XI). Damit wird dem Einzelnen der Gebrauch der Vertragsfreiheit sachlich, inhaltlich und zeitlich vorgegeben. Der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ist danach berührt.
Die allgemeine Handlungsfreiheit ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Sie steht unter dem Vorbehalt der Rechte Dritter, der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes. Art. 2 Abs. 1 GG darf daher durch förmliches Gesetz beschränkt werden, sofern die Einschränkung durch Gemeinwohlerwägungen gerechtfertigt und verhältnismäßig ist. An diesen Vorgaben ist § 23 SGB XI zu messen.
2. Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 23 SGB XI
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Zunächst müsste § 23 SGB XI von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes umfasst sein. Es könnte die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (a) oder Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (b) begründet sein.
a) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG
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Die Zuständigkeit des Bundes zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung als fünftem Zweig der Sozialversicherung könnte sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergeben. Der Bund hat die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung. Sozialversicherung bedeutet die öffentlich-rechtliche Vorsorge für die sozialen Risiken.
Das Prinzip der Sozialversicherung wird primär durch die zur Verwirklichung des sozialen Schutzes eingesetzte Technik, nämlich die Versicherungspflicht, einkommensproportionale Beiträge und den gesetzlichen Leistungskatalog, nicht aber durch den Inhalt der getroffenen Regelung bestimmt.[2] Ihr Anwendungsbereich ist deshalb nicht auf die traditionellen sozialen Risiken Alter, Krankheit, Arbeitsunfall und Arbeitslosigkeit zu beschränken, sondern darf auch auf neue Risiken erstreckt werden. Die Sozialversicherung wird durch die Versicherungspflicht und die solidarische, auf dem Umlageverfahren beruhende Finanzierung geprägt.[3]
Das öffentlich-rechtliche Versicherungsverhältnis zwischen einem Träger und dem Versicherten wird durch Gesetz begründet. Dieses bestimmt nicht nur den Inhalt des Versicherungsverhältnisses, sondern begründet auch dessen Zustandekommen unabhängig vom Willen des Einzelnen. Versicherungspflicht bedeutet somit die Einbeziehung des Versicherten in das Versicherungsverhältnis kraft einseitiger öffentlich-rechtlicher Anordnung.
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Der Privatversicherte wird aufgrund von § 23 SGB XI jedoch nicht kraft Gesetzes in die Versicherung einbezogen. Er wird vielmehr zum Abschluss eines privaten Versicherungsvertrages angehalten. Der Versicherungsschutz wird also nicht durch öffentliches Recht verwirklicht, sondern ist durch Vertragsschluss im privaten Versicherungsrecht zu realisieren. Folglich berührt das in § 23 SGB XI statuierte und von der in §§ 1 Abs. 2 Satz 1, 20 SGB XI normierten Versicherungspflicht begrifflich zu unterscheidende Versicherungsobligatorium nicht das Sozialversicherungs-, sondern das Privatversicherungsrecht. Der Bund vermag seine Gesetzgebungszuständigkeit zur Begründung eines Versicherungsobligatoriums für Privatversicherte folglich nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu stützen.
b) Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG
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Die Zuständigkeit des Bundes könnte jedoch durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG begründet sein.[4] Danach hat der Bundesgesetzgeber die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis für das „privatrechtliche Versicherungswesen“. Eine diesen Versicherungszweig berührende Regelung liegt vor, wenn deren Adressaten private, miteinander im Wettbewerb stehende Versicherungsunternehmen sind, deren Prämien sich am individuellen Versichertenrisiko ausrichten und deren Leistungen im Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden.[5]
Da sich § 23 SGB XI an private, miteinander im Wettbewerb stehende Versicherungsunternehmen richtet, das individuelle Pflege- und Krankheitsrisiko die Höhe der Prämien maßgebend bestimmt und die private Pflegeversicherung im Kapitaldeckungsverfahren und nicht, wie die soziale Pflegeversicherung, im Umlageverfahren finanziert wird, liegt trotz der letztlich sozialpolitischen Zweckrichtung des Obligatoriums eine privatversicherungsrechtliche Regelung vor. Ihre Schaffung wird folglich von der dem Bund eingeräumten Gesetzgebungszuständigkeit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG getragen.
Weitere Bedenken gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit des § 23 SGB XI bestehen nicht.
3. Vereinbarkeit des Versicherungsobligatoriums mit Art. 2 Abs. 1 GG
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§ 23 SGB XI könnte allerdings mit der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar sein, falls die Bestimmung nicht durch das Gemeinwohl legitimiert (a) oder in ihrer Zuteilung von Vorzügen und Lasten unverhältnismäßig (b) ist.
a) Legitimes Ziel im Interesse des Gemeinwohls
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Die Sicherung des Einzelnen im Fall der Pflegebedürftigkeit könnte durch das Sozialstaatsprinzip der Allgemeinheit als Aufgabe zugewiesen sein. Aufgrund des Sozialstaatsprinzips[6] (Art. 20 Abs. 1 GG) und um des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) Willen hat der Staat den Einzelnen vor elementaren Daseinsrisiken zu bewahren und bei deren Verwirklichung konkret zu schützen.
Das Sozialstaatsprinzip umschreibt die aus den Bindungen des Staates an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) erwachsenden Schutzpflichten.[7] Sie ergänzen die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte und sichern die Freiheitsentfaltung im Verbund mit diesen. Wegen der subsidiären, indes umfassenden Einstandspflicht der Sozialhilfeträger als Garanten elementarer Daseinssicherung (§ 1 SGB XII) ist der Staat insbesondere berufen, den Einzelnen zur Vorsorge vor den herkömmlichen sozialen Risiken anzuhalten,[8] um zu verhindern, dass Menschen bei Eintritt eines sozialen Risikos Sozialhilfe beanspruchen müssen.
Die Vorsorge für Pflegebedürftigkeit bezweckt, den Einzelnen in einer Zeit zunehmender Alterung und der Ausweitung der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten vor einer wachsenden, durch den Eintritt individueller Hilfe- und Pflegebedürftigkeit entstehenden Gefahr erheblicher finanzieller Belastungen durch die Kosten der Pflege zu bewahren. Vor Schaffung der Pflegeversicherung ging Pflegebedürftigkeit bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Menschen mit Sozialhilfebedürftigkeit einher. Dies soll die Pflegeversicherung abwenden und darin liegt ihr Gemeinwohlzweck.