Klausurenkurs im Sozialrecht. Constanze Janda. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Constanze Janda
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783811487420
Скачать книгу

      Die Pflegeversicherung verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 1 GG: Rechtsstaatsprinzip), wenn sie weder erforderlich noch geeignet ist, noch schließlich der erstrebte Zweck und die dafür eingesetzten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen.

      Seit mehr als einem Jahrhundert[9] hat die Sozialversicherung ihre Eignung für die Bewältigung der Massenrisiken erwiesen. Sie vermag einem großen Bevölkerungsteil einen angemessenen Schutz im Falle der Verwirklichung elementarer Daseinsrisiken zu gewähren. Die Sicherung bei Pflegefällen wird in vielen Staaten durch die Sozialversicherung gewährleistet, sei es als unselbstständiger Teil des Gesundheitswesens, sei es als eigener Leistungszweig oder als eine im Zusammenhang mit dem Alter stehende, ergänzende Sicherung.[10]

      In der Vergangenheit zeigte sich, dass die Bereitschaft zur freiwilligen Vorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht bestand. Vor Einführung der Pflegeversicherung war die Mehrzahl der Pflegebedürftigen deshalb auf die Sozialhilfe angewiesen.[11] Aufgrund der Subsidiarität der Sozialhilfe hatten pflegebedürftige Personen zudem zunächst das eigene Vermögen aufzubrauchen und Unterhaltsansprüche gegen Verwandte in gerader Linie geltend zu machen. Pflegebedürftigkeit erwies sich damit als spezifisches Armutsrisiko. Durch die Sozialversicherung Vorsorge auch für die nicht akut vom Pflegerisiko Betroffenen zu schaffen, war demnach statthaft, weil nur so eine hinreichend leistungsfähige Solidargemeinschaft gebildet werden konnte, die den Schutz der Pflegebedürftigen zu bezahlbaren Beiträgen sichert. Vergleichsweise niedrige Beiträge für möglichst viele Menschen verbürgen den Schutz für ein Risiko, dessen Eintritt regelmäßig mit erheblichen Folgen für den Einzelnen wie die staatliche Gemeinschaft verbunden ist.

      20

      

      Die Art und Weise der Ausgestaltung des Versicherungsobligatoriums ist vom traditionell weiten sozialpolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt. Da die Versicherungsprämien im Vergleich zu den hohen Kosten eines Pflegefalls niedrig sind, ist schließlich auch die Angemessenheit im Einzelfall gewahrt.[12]

      Die Regelung ist daher formell und materiell verfassungskonform. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einbeziehung freiwillig privat gegen Krankheit Versicherter sind nicht begründet.

      II. Verfassungsmäßigkeit des Beitragszuschlags für Kinderlose

      21

      Der in § 55 Abs. 3 SGB XI verankerte Beitragszuschlag in Höhe von 0,35% für Kinderlose könnte ungewollt Kinderlose in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen.

      1. Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG

      22

      Der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz fordert nicht die unbedingte Gleichstellung aller Sachverhalte im Gesetz. Nach der „neuen Formel“ des BVerfG liegt eine unzulässige Ungleichbehandlung vielmehr nur dann vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe unterschiedlich behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine derart substanziellen Unterschiede bestehen, welche die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.[13]

      Durch § 55 Abs. 3 SGB XI werden Kinderlose im Verhältnis zu den Personen ungleich behandelt, die ihren Kinderwunsch erfüllen können. Beide Gruppen unterscheiden sich jedoch dadurch, dass diese einen generativen Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung leisten, jene aber nicht. Dies begründet einen durchaus substanziellen Unterschied im Hinblick auf das Ziel der Regelung, die beitragsrechtliche Besserstellung von Beitragszahlern mit Kindern zu bewirken: Das BVerfG[14] war der Auffassung, es sei mit Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG unvereinbar, „dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden“. Das BVerfG[15] verlangte daher, dass die Versicherten regelmäßig für den Schutz vor einem altersspezifischen Risiko durch die Sozialversicherung sowohl einen monetären, als auch einen regenerativen Beitrag leisten. Erbrächten sie lediglich den monetären, nicht aber den regenerativen Beitrag, müssten sie diesen Ausfall durch einen höheren monetären Beitrag ausgleichen.

      23

      

      Indes werden alle kinderlosen Versicherten zu einem Beitragszuschlag herangezogen. Sie werden gleich behandelt, obwohl die Kinderlosigkeit auf unterschiedlichen Gründen beruhen kann – sowohl auf einer höchstpersönlichen Entscheidung über die eigene Lebensgestaltung als auch auf der medizinischen Unfruchtbarkeit. Es ist jedoch fraglich, ob die Motivation, Kinder zu bekommen, einen derart substanziellen Unterschied zwischen beiden Gruppen begründet, dass eine Differenzierung nach dem Grund der Kinderlosigkeit geboten ist.[16] In letzter Konsequenz wird damit die Frage aufgeworfen, ob allein die subjektive Bereitschaft Kinder aufzuziehen, eine beitragsrechtliche Privilegierung im Recht der sozialen Pflegeversicherung nach sich ziehen muss. Das BVerfG hat seine umstrittene Forderung nach der beitragsrechtlichen Entlastung von Eltern auf den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten besonderen Schutz der Familie gestützt. Dieser Gedanke kann schlechterdings nur Personen betreffen, die als Familie leben, setzt also das Vorhandensein von Kindern zwingend voraus. Es ist daher bereits fraglich, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt.

      2. Sachliche Rechtfertigung

      24

      Selbst wenn man eine Benachteiligung all jener annimmt, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zeugungs- bzw. empfängnisfähig sind, ist diese gerechtfertigt. Problematisch wäre bereits die Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Nachprüfbarkeit der Motive der Kinderlosigkeit. Es bedeutete zweifelsohne einen erheblichen Eingriff in die Intimsphäre der betroffenen Personen, wenn die Pflegekasse berechtigt wäre, einen Nachweis über die medizinische Unfruchtbarkeit zu fordern. Dies wäre aber unerlässlich, um über das Bestehen der Pflicht zur Abführung des Beitragszuschlags entscheiden zu können.

      Überdies stellt sich die Frage nach der Reichweite der beitragsrechtlichen Privilegierung. Wollte der Gesetzgeber Personen vom Beitragszuschlag ausnehmen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können, müssten womöglich auch Versicherte vom Beitragszuschlag befreit werden, die ihren Kinderwunsch nicht realisieren können, weil sie keinen Partner haben. Der administrative Aufwand wäre – insbesondere angesichts des vergleichsweise geringen Zuschlags von 0,35 Prozentpunkten – erheblich, sodass der mit der Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG verbundene finanzielle Nachteil zumindest nicht unverhältnismäßig ist.[17]

      III. Beitrags- und Prämiengestaltung für Familien in der Renten- und Pflegeversicherung

      25

      Die von dem Elternpaar vorgetragenen Bedenken betreffen die Ausgestaltung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Fraglich ist, inwieweit der von Eltern den Kindern geschuldete Familienunterhalt (§§ 1601 ff. BGB) bei der Festsetzung der Beitragshöhe aus Gründen des Schutzes von Ehe und Familie zu berücksichtigen ist. Hierzu müssen der Auftrag der Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG bestimmt (1.) und die Berücksichtigung des „generativen Beitrags“ nach dem geltenden Beitragsrecht der Rentenversicherung analysiert werden (2.).

      1. Der Auftrag des BVerfG aus Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG

      26

      In seiner Entscheidung zum Beitragsrecht in der sozialen Pflegeversicherung hatte das BVerfG die Auffassung vertreten, den „Kinderlosen“ würden auf Kosten der Kindererziehenden für das „altersspezifische Risiko der Pflegebedürftigkeit“ im Umlageverfahren getragene Leistungen aus der Pflegeversicherung zuteil, ohne selbst Kinder erzogen und „damit zum Erhalt des Beitragszahlerbestandes durch Kindererziehung beigetragen“[18] zu haben. „Wenn aber das Leistungssystem ein altersspezifisches Risiko abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern auch die Kindererziehung konstitutiv.