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Nach § 855 gibt es – massenhaft – Fälle, in denen der eine zwar die tatsächliche Gewalt über eine Sache, aber keinen Besitz, und der andere zwar unmittelbaren Besitz, aber keine tatsächliche Sachherrschaft hat. Der eine heißt Besitzdiener, der andere Besitzherr, was ihre Beziehung treffend beschreibt, denn auch hier befiehlt der Herr und gehorcht der Diener. Obwohl der Diener die Sache in der Hand hält, spricht das Gesetz ihm jeglichen Besitz ab und erklärt den Herrn zum unmittelbaren Besitzer. Schuld daran ist das Machtgefälle zwischen Befehl und Gehorsam, wie es vor allem im Arbeitsverhältnis herrscht.
§ 855 ist eine Ausnahme von § 854 I, der den Besitz als tatsächliche Sachherrschaft definiert. Woran aber erkennt man den Besitzdiener? Man erkennt ihn daran, dass er nicht für sich, sondern für einen anderen besitzt, weil er dessen Weisungen in Bezug auf die Sache gehorchen muss. Befehl und Gehorsam sind die Kennzeichen. Während der unmittelbar besitzende Mieter kraft des Mietverhältnisses dem Vermieter nach § 868 mittelbaren Besitz vermittelt, verschafft der angestellte Besitzdiener kraft des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitgeber nach § 855 unmittelbaren Besitz. Diese beiden Besitzverhältnisse unterscheiden sich darin: Der Arbeitnehmer hat Sachen, die er vom oder für den Arbeitgeber erlangt, vertraglich so zu handhaben, wie der Arbeitgeber es haben will, der Mieter dagegen gebraucht die Mietsache im Rahmen des Mietvertrags weisungsfrei und nach seinem Geschmack.
Wenn man bedenkt, dass Millionen Arbeitnehmer ihr Arbeitsgerät und was sie sonst noch am Arbeitsplatz in die Hand bekommen, nicht selbst besitzen, ist der Besitzdiener nur rechtlich eine Ausnahmeerscheinung, in der Wirklichkeit des Lebens aber eine überaus häufige Rechtsfigur.
5.2 Die Rechtsfolge der Besitzdienerschaft
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Nach § 855 „ist nur der andere Besitzer“, das ist die gesetzliche Rechtsfolge. Gemeint ist der weisungsbefugte Besitzherr. Was der Besitzdiener in Händen hat, besitzt er nicht für sich, sondern für den Besitzherrn; er selbst hat besitzrechtlich nichts zu melden.
Dies hat weitreichende Folgen: Als Nichtbesitzer hat der Besitzdiener nicht die Besitzschutzrechte der §§ 859-862, 812 I, 823. Wer dem Besitzdiener die Sache wegnimmt, verletzt nur den Besitz des Besitzherrn. Zwar darf sich nach §§ 860, 859 auch der Besitzdiener verbotener Eigenmacht mit Gewalt erwehren, aber nicht aus eigenem Recht, sondern wiederum nur für den Besitzherrn[32].
Nimmt der Besitzherr seinem Besitzdiener die Sache weg, begeht er als unmittelbarer Besitzer keine verbotene Eigenmacht nach § 858 I, sondern verletzt allenfalls den Dienst- oder Arbeitsvertrag. Umgekehrt begeht der Besitzdiener verbotene Eigenmacht, wenn er die Sache ohne den Willen des Besitzherrn aus der Hand gibt, denn sein eigener Wille als Nichtbesitzer zählt nicht[33]. Indem aber der Besitzdiener eigenmächtig dem Besitzherrn den unmittelbaren Besitz einer beweglichen Sache entzieht, kommt sie dem Besitzherrn abhanden und kann nach § 935 I nicht gutgläubig erworben werden[34].
Mangels eigenen Besitzes hat der Besitzdiener weder die Eigentumsvermutung des § 1006 I 1 für sich, noch kann er nach §§ 929, 932 eigenen Besitz übertragen. Er kann nur den Besitz des Dienstherrn übertragen, entweder mit dessen Willen oder durch verbotene Eigenmacht. Ohne Besitz ist der Besitzdiener auch kein tauglicher Gegner eines Herausgabeanspruchs aus § 985. Aber er leistet seinem Besitzherrn nützliche Dienste sowohl bei der Übertragung als auch beim Erwerb des unmittelbaren Besitzes.
Wenn der durch einen Besitzdiener erworbene Besitz unrechtmäßig ist, stellt sich für die Haftung aus § 990 die Frage, ob es auf den bösen Glauben des Besitzdieners oder des Besitzherrn ankommt und ob insoweit § 166 oder § 278 oder § 831 die passende Zurechnungsnorm sei (RN 172)[35].
5.3 Der Besitzerwerb durch Besitzdiener
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Besitzdiener ist nach § 855 jeder, der die tatsächliche Sachherrschaft für einen anderen ausübt, weil er insoweit die Weisungen des anderen zu befolgen hat. Dies erfordert ein Rechtsverhältnis, das den einen berechtigt, Weisungen zu erteilen, und den anderen verpflichtet, diese Weisungen zu befolgen. Das Gesetz nennt beispielhaft die Tätigkeit in einem fremden Haushalt oder Erwerbsgeschäft und verweist im Übrigen auf „ähnliche Verhältnisse“. Dass die Hausgehilfin weder die Wohnung, in der sie arbeitet, noch die Wohnungseinrichtung besitzt, und dass die angestellte Verkäuferin weder die Waren noch die Kasse besitzt, leuchtet ein, weil diese Rechtsfolge mit der praktischen Anschauung übereinstimmt und es geradezu grotesk wäre, diesen Personen Besitzschutz gegen ihren Arbeitgeber zu gewähren.
Der gemeinsame Nenner von Haushalt, Erwerbsgeschäft und ähnlichen Verhältnissen ist die rechtliche Unterwerfung einer Person unter die Weisungsgewalt einer anderen, die man auch als soziale Abhängigkeit umschreiben kann[36], wie man sie im Arbeitsverhältnis findet.
Unerheblich ist, ob die soziale Abhängigkeit auf Vertrag oder Gesetz, auf privatem oder öffentlichem Recht beruht, ob das Rechtsverhältnis wirksam oder unwirksam ist, wenn nur der Besitzdiener sich für weisungsgebunden hält und deshalb den Besitz tatsächlich für einen anderen ausübt.
Eine wirtschaftliche Abhängigkeit genügt so wenig[37] wie eine schuldrechtliche Aufbewahrungs- oder Herausgabepflicht[38], die vielmehr ein Besitzmittlungsverhältnis nach § 868 begründet.
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Beispiele
- | Besitzdiener sind vor allem die Arbeiter, Angestellten und Beamten an allen Sachen des Arbeitgebers oder Dienstherrn, die sie in die Finger bekommen: die Bürovorsteherin in der Anwaltskanzlei (BGH NJW 79, 714), der angestellte Fahrer (OLG Düsseldorf NJW 86, 2513: wenn er den Dienstwagen nicht auch privat benutzen darf), der Angestellte, der die Schlüssel zu den Räumen des Arbeitgebers besitzt, in denen Kisten voller Altzahngold lagern (BGH NJW 2015, 1678), der Prokurist (RG 71, 252), die Zweigstelle einer Bank (RG 112, 113) und der Soldat (OLG München NJW 87, 1830). |
- | Entdeckt die Platzanweiserin eines Kinos nach der Vorstellung einen Brillantring im Wert von 2000,– € und nimmt sie ihn an sich, um ihn bei der Geschäftsleitung abzugeben, wird sie weder Besitzerin nach § 854 I noch Finderin nach §§ 965, 973, sondern nur Besitzdienerin nach § 855 für ihren Arbeitgeber, denn für ihn hat sie den Ring an sich genommen, weil der Arbeitsvertrag sie dazu verpflichtete, den Zuschauerraum nach jeder Vorführung auf verlorene Sachen abzusuchen und den Fund bei der Geschäftsleitung abzugeben (BGH 8, 130). Der Kinobetreiber hat den unmittelbaren Besitz freilich nicht erst durch das „Finden“ seiner Platzanweiserin erlangt, sondern kraft seines allgemeinen Besitzerwerbswillens schon mit dem Verlorengehen der Fundsache, wenn er diesen Willen durch Anweisung an sein Personal ausgedrückt hat, Fundsachen bei der Geschäftsleitung abzugeben (BGH 101, 186: Tausendmarkschein im Supermarkt). Nimmt die Platzanweiserin die Fundsache mit sich nach Hause, statt sie abzuliefern, erlangt sie zwar eigenen unmittelbaren Besitz, da sie ersichtlich nicht für ihren Arbeitgeber besitzen will, begeht aber verbotene Eigenmacht (§ 858 I). Dadurch kommt die Fundsache dem Kinobetreiber abhanden und kann nach § 935 I nicht gutgläubig erworben werden. |
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Die Putzfrau einer Kirchengemeinde stöbert im Nebenraum der Friedhofskapelle in einer alten Kiste und fördert mittelalterliche Holzschnitzereien zu Tage. Gegen die Kirchengemeinde klagt sie auf Feststellung ihres Miteigentums an dem gehobenen „Schatz“.
Sie hat sich jedoch verschätzt, denn ihre Entdeckung
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