Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Schellhammer
Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783811487345
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auskommt, erst in den §§ 868-871 auftaucht. Tatsächlich beherrsche ich eine Sache stets dann, wenn ich ihr für eine gewisse Dauer räumlich so nahe bin, dass ich sie jederzeit ungehindert ergreifen kann, unabhängig davon, ob ich dazu berechtigt bin oder nicht.

      Als tatsächliche Sachherrschaft[2] steht der unmittelbare Besitz im Gegensatz zur rechtlichen Sachherrschaft des Eigentums. Besitz ist tatsächliche Sachherrschaft mit und ohne Recht zum Besitz, Eigentum dagegen ist rechtliche Sachherrschaft mit und ohne Besitz. Besitzer ist nicht nur der Erbbauberechtigte, der Mieter und der Finder, sondern auch der Dieb, der die Sache dem Eigentümer gestohlen hat.

      Tatsächliche und rechtliche Sachherrschaft sind nach geltendem Recht zwei verschiedene Herrschaften, die im Normalfall zwar in einer Hand liegen, aber unterschiedliche Rechtsfolgen haben. Besitzstörungen wehrt man nach §§ 859-864, Eigentumsstörungen dagegen nach §§ 985-1004 ab.

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      Abgrenzen muss man den Besitz des BGB auch vom Gewahrsam der ZPO. Nach § 808 I ZPO pfändet der Gerichtsvollzieher, der einen Zahlungstitel vollstreckt, nur Sachen, die sich im Gewahrsam des Schuldners befinden. Diese Sachen darf er – vollstreckungsrechtlich – auch dann pfänden, wenn sie nicht dem Schuldner gehören. Umgekehrt darf er Sachen, die sich im Gewahrsam eines nicht herausgabewilligen Dritten befinden, nach § 809 ZPO auch dann nicht pfänden, wenn sie dem Schuldner gehören.

      Da der Gerichtsvollzieher außer Stande ist, die unsichtbaren Eigentumsverhältnisse zu klären, hält er sich an den sichtbaren Gewahrsam des Schuldners. So wie § 1006 I materiellrechtlich vom unmittelbaren Besitz auf Eigentum schließt, so unterstellt § 808 ZPO vollstreckungsrechtlich, dass dem Schuldner alle Sachen, die sich in seinem Gewahrsam befinden, auch zu Eigentum gehören. Der Gewahrsam des § 808 ZPO deckt sich also mit dem unmittelbaren Besitz des § 854 I, während die Rechtsfigur des Besitzdieners nach § 855 und der ererbte Besitz nach § 857 auf den Gewahrsam des § 808 ZPO nicht übertragbar sind. Im Übrigen sehen BGB und ZPO im unmittelbaren Besitz des Eigentümers und im Eigentum des unmittelbaren Besitzers den augenscheinlichen Normalfall.

      Aber auch die ZPO unterscheidet zwischen der tatsächlichen und der rechtlichen Sachherrschaft, zwischen Gewahrsam und Recht. Verfahrensrechtlich ermächtigt zwar § 808 I ZPO den Gerichtsvollzieher zur Pfändung aller Sachen im Gewahrsam des Schuldners. Materiellrechtlich hingegen darf der Gläubiger nur in das Vermögen des Schuldners vollstrecken; sein Zugriff auf schuldnerfremdes Vermögen ist nach materiellem Recht rechtswidrig. Der Dritte, dem die gepfändete Sache gehört, darf deshalb nach § 771 ZPO widersprechen und die Zwangsvollstreckung für unzulässig erklären lassen[3]. Kommt er damit zu spät, kann er vom Gläubiger nach § 812 I die Herausgabe des Versteigerungserlöses oder nach § 823 I gar Schadensersatz verlangen.

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      Im System des BGB steht der unmittelbare Besitz für das Eigentum, das er verkörpert und publik macht, denn die tatsächliche Sachherrschaft des Besitzers kann man sehen, die rechtliche Sachherrschaft des Eigentümers nicht. Wem ein Fotoapparat, ein Fahrrad oder ein Auto von Rechts wegen gehört, sieht man mit bloßem Auge nicht, wohl aber, wer es besitzt, nämlich derjenige, der den Fotoapparat um den Hals hängen hat, der auf dem Fahrrad sitzt oder das Auto steuert. Es ist deshalb kein Zufall, dass das Gesetz vom sichtbaren Besitz auf das unsichtbare Eigentum schließt, denn die Gleichsetzung des unmittelbaren Besitzes mit dem Eigentum entspricht lebendiger Anschauung und bezeichnet deshalb, wenn auch nur für bewegliche Sachen, den gesetzlichen Normalfall.

      So vermutet § 1006 I 1, dass der unmittelbare Besitzer mit dem Besitz zugleich Eigentum erworben habe. Zwar gilt dies nur für den Erwerb des unmittelbaren Eigenbesitzes nach § 872, aber auch er wird folgerichtig vermutet. Wer etwas anderes behauptet, muss es im Streitfall beweisen (RN 1174).

      Da der unmittelbare Besitz im Regelfall auf Eigentum verweist, wird eine bewegliche Sache nach § 929 S. 1 durch Einigung und Übergabe übereignet (RN 1104). Übergabe bedeutet Übertragung des unmittelbaren Besitzes, was voraussetzt, dass der Veräußerer nicht nur Eigentümer, sondern auch unmittelbarer Besitzer ist. Zwar kann man eine bewegliche Sache nach §§ 930, 931 auch ohne Übergabe übereignen, aber das sind bereits atypische Fälle, die vom System abweichen. Folgerichtig verpflichtet der Kaufvertrag, wenn nichts anderes vereinbart ist, nach § 433 I zur Übergabe und zur Übereignung.

      Schließlich rechtfertigt der unmittelbare Besitz des Veräußerers nach § 932 I 1 den gutgläubigen Erwerb vom Nichteigentümer. Auf den unmittelbaren Besitz des Veräußerers darf man im Regelfall bauen (RN 1137).

      Im Liegenschaftsrecht ist es nur deshalb anders, weil das Grundbuch, deutlicher noch als der Besitz, das Eigentum an Grundstücken ausweist und deshalb die Aufgaben der Rechtsvermutung, der Übertragung und des Gutglaubensschutzes übernimmt (§§ 891, 873, 892). § 433 I 1 verpflichtet aber auch den Grundstücksverkäufer nicht nur zur Übereignung sondern auch zur Übergabe.

3. Der Erwerb des unmittelbaren Besitzes

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      Unmittelbaren Besitz erwirbt man nach § 854 I „durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache“. Jedoch genügt nach § 854 II die Einigung zwischen altem und neuem Besitzer, „wenn der Erwerber in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben“. Die „Erlangung der tatsächlichen Gewalt“ ist ein rein tatsächlicher Vorgang ohne Rechtsfolgewillen (Realakt) und der gesetzliche Normalfall. Die Einigung über den Besitzwechsel hingegen ist ein Rechtsgeschäft und ein gesetzlicher Sonderfall.

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      Die tatsächliche Gewalt über eine Sache hat vier Voraussetzungen:

- eine nahe räumliche Beziehung zu der Sache, die den direkten und ungehinderten Zugriff auf die Sache ermöglicht;
- eine gewisse Festigkeit und Dauer, weil eine nur flüchtige Sachherrschaft laut § 856 II noch keinen Besitz begründet[4];
- die Erkennbarkeit dieser Sachbeziehung für jeden, der sich dafür interessiert[5];
- den Willen zum Besitz[6].

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      Da es sich durchweg um tatsächliche Verhältnisse und Vorgänge handelt, entscheidet letztlich die Verkehrsanschauung darüber, ob das, was man vor Augen hat, unmittelbarer Besitz sei oder nicht[7]. Dass auch noch andere Personen eine gewisse Zugriffsmöglichkeit haben, schließt alleinigen