Die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Thomas-Gabriel Rüdiger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas-Gabriel Rüdiger
Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783866766464
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des Landeskriminalamtes Wiesbaden beschreibt in einer TV-Reportage, dass „[…] Kinder, die auf solchen Chat-Plattformen unterwegs sind, innerhalb von wenigen Sekunden bis maximal ein bis zwei Minuten bereits von Pädophilen sexualisiert angesprochen werden […]“22. Im Rahmen eines Cybercrime-Lagebildes kommt das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) zu einer ernüchternden Einschätzung des Umfanges des Phänomens. Demnach sei „[…] für viele Kinder und Jugendliche die Annäherung mit sexuellen Motiven bereits selbstverständlicher Teil der Kommunikation im Internet […]“ und daher würden die „[…] Opfer ein solches Verhaltens oftmals zunächst nicht als strafbare Handlung bewerten […]“23. Trotz dieser Einschätzung liegt aber die Aufklärungsquote für Delikte im Bereich Cybergrooming seit 10 Jahren gemäß einer Analyse der zu Grunde liegenden PKS konstant bei über 80 Prozent24. Dies könnte als Anzeichen dafür ausgelegt werden, dass der Strafverfolgungsdruck bei diesem Delikt offenbar nicht hoch genug sein könnte. Denn wenn die Straftaten mit hinreichenden Anhaltspunkten durch die Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt werden können, kann dies auch darauf hindeuten, dass die aufgeklärten Täter nur geringe oder unwirksame Schutzmechanismen zur Unterbindung einer wirksamen Strafverfolgung oder gar keine nutzen. Insgesamt können diese Indizien daher darauf hindeuten, dass es entweder objektiv nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für Täter gibt, bei entsprechenden Cybergrooming-Prozessen auch angezeigt zu werden, oder dass die Täter diese nur subjektiv als gering empfinden und daher nur geringe Schutzmaßnahmen gegen die Strafverfolgung einleiten. Um dieser Entwicklung zu begegnen, erscheint es notwendig herauszuarbeiten, wo die Opfer viktimisiert werden, welche Umstände die Viktimisierung unterstützen und welche Schutzmechanismen in Form des Strafrechts, aber auch der kriminalpolitischen Ansätze ausreichend sind, um eine solche Viktimisierung zu unterbinden.

      Eine besonders kontroverse Diskussion hatte in diesem Zusammenhang bereits 2010 die Sendung „Tatort Internet“ ausgelöst. In dieser gaben sich Journalisten im Internet als Kinder aus, ließen sich in einschlägigen Internetforen durch offenkundige Cybergroomer kontaktieren und trafen sich dann mit diesen Kontakten. Dabei wurden die Personen, die sich mit dem vermeintlichen Kind treffen wollten, von einem Kamerateam entsprechend bloßgestellt25. Diese Sendung hat auch in der medialen Darstellung und in der Gesellschaft Kritik ausgelöst26. Aber nicht nur Journalisten gehen so vor: Eine Vielzahl Personen, Gruppen oder auch Institutionen führen noch heute vergleichbare ‚Operationen‘ durch. Im Rahmen dieser an Vigilantismus grenzenden Handlungen werden die Täter wie bei „Tatort Internet“ zumeist vor einer laufenden Kamera bloßgestellt und die Aufnahmen nicht selten auch in Sozialen Medien veröffentlicht. Der YouTuber MemoHD27 hatte mehrere solcher Videos mit teilweise sechsstelligen Zugriffszahlen und tausenden von Kommentaren veröffentlicht28. Eine ganze Reihe anderer YouTuber betreiben ähnliche Formate, die offenkundig auch zur Erhöhung der Aufmerksamkeit des eigenen Kanals dienen sollen29. Einen etwas anderen Weg ging der niederländische Zweig der Organisation Terre des Hommes bereits im Jahr 2012. Diese setzten mit Sweety einen täuschend echt aussehenden Avatar eines 10-jährigen Mädchens ein, um sich von Sexualtätern ansprechen zu lassen und diese letztlich zu überführen30. Im Rahmen dieser ‚Operation‘ kontaktierte Terre des Hommes nach eigenen Angaben weltweit Strafverfolgungsbehörden, um insgesamt 100.000 Menschen identifizieren zu lassen, die bereit waren für den Missbrauch vor der Kamera Beträge zwischen 10 und 15 US-Dollar zu zahlen; 1.000 Tatverdächtige konnten schlussendlich identifiziert werden31. Unabhängig davon, wie solche Formate und Sendungen bewertet werden, offenbart es doch gleichzeitig, wie einfach und letztlich normal es offenbar im Internet ist mit Sexualtätern konfrontiert zu werden, und auch, wie schnell sich mutmaßliche Sexualtäter mit vermeintlichen Kindern im physischen Raum treffen oder einen sexuellen Missbrauch über digitale Medien vornehmen.

      In der Politik und den Sicherheitsbehörden sind in diesem Zusammenhang Forderungen nach der Einführung der bisher nicht vorhandenen Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB erhoben worden33. Diese Forderung wurde in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung der 19. Legislaturperiode aufgenommen. Hier heißt es: „[…] wir führen eine Strafbarkeit für den Versuch des Cybergroomings ein, um Kinder im Internet besser zu schützen und die Effektivität der Strafverfolgung pädophiler Täter, die im Netz Jagd auf Kinder machen, zu erhöhen […]“34. Die Verwendung des Wortlautes „wir führen ein“ deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine reine Wollenserklärung, sondern um eine tatsächliche Absichtserklärung handelt. Demnach kann damit gerechnet werden, dass ein entsprechendes Gesetzesvorhaben angegangen wird. Diesem Bundesvorhaben ist das Bundesland Hessen bereits zuvorgekommen und hat im Oktober 2018 im Bundesrat einen eigenen Gesetzesvorschlag zur Einführung einer Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB vorgelegt35.

      Hintergrund dieser politischen Forderung zur Einführung einer Versuchsstrafbarkeit ist, dass der Gesetzgeber in § 176 Abs. 6 Hs. 2 StGB festgeschrieben hat, dass zunächst jeder Versuch aus dem Tatkanon des § 176 StGB unter Strafe steht. Er hat dann aber als Eingrenzung explizit festgesetzt, dass keine Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB greifen soll. Dieser Feststellung misst der Gesetzgeber offensichtlich sogar eine besondere Bedeutung bei, da es sich bei § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB um ein Vergehen handelt. Der Versuch eines Vergehens ist gem. § 23 Abs. 1 StGB aber nur strafbar, wenn der Gesetzgeber dies explizit so vorsieht. Erst durch die Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit auf den gesamten § 176 StGB ist also die Eingrenzung notwendig geworden. Dennoch scheint der Gesetzgeber diese Tathandlungen als weniger verwerflich anzusehen als den übrigen Tatkanon des § 176 StGB. Die fordernden Politiker erhoffen sich dem Koalitionsvertrag zufolge durch die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit v. a. eine effektivere und leichtere proaktive Überführung von Sexualtätern durch die Strafverfolgungsbehörden36. Dieser Gedanke basiert auf der Durchführung von proaktiven polizeilichen Operationen, bei denen sich Polizisten mit der Identität eines Kinders – sog. Scheinkinder oder Lockvögel – tarnen und sich entsprechend passiv durch Täter ansprechen lassen37. Im Rahmen einer solchen Operation kann es nach gegenwärtiger Rechtslage zu einer strafbewährten Handlung kommen, wenn die Tatverdächtigen im Glauben handeln, mit einem Kind zu kommunizieren, und z. B. vor einer Webkamera sichtbare sexuelle Handlungen vornehmen. Hierbei ergibt sich eine noch zu betrachtende Strafbarkeitsmöglichkeit in Form eines untauglichen Versuches nach §§ 176 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. Abs. 5 i. V. m. 23 Abs. 1 StGB. Die Forderung der Politik zielt nun darauf ab, dass es bereits strafbar sein sollte, wenn ein mutmaßlicher Täter in der Annahme, mit einem Kind zu kommunizieren, in Wirklichkeit mit den entsprechend vorgehenden Polizisten spricht. Dies soll aus Sicht der Politik offenbar eine wirksame Strafverfolgung verbessern und somit langfristig die Zahl der Täter und somit auch der Opfer zu verringern. Im Kern soll dies letztlich dazu beitragen, für Täter die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, mit einer Strafanzeige konfrontiert zu werden. Dabei würde die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit jedoch – je nach Formulierung des Gesetzestextes – faktisch auch bereits das Ansetzen zu einem Einwirken auf ein Kind unter Strafe stellen. Dies würde die Strafbarkeit offensichtlich weit vor der eigentlichen Tathandlung ansetzen, was relativ einmalig im deutschen Strafrecht wäre. Aber auch ohne den Diskussionspunkt der Vorfeldstrafbarkeit stellt sich hier die Frage, welche Auswirkungen die Einführung hätte und ob sie sinnvoll erscheint. Dabei ergibt sich auch die Frage, wie sich die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit eigentlich auf die polizeiliche Arbeit bei der Bekämpfung entsprechender Sexualtäter auswirkt. Bisher fehlt es im deutschsprachigen Raum weitestgehend an einer gesamtheitlich getragenen Betrachtung des Phänomens Cybergrooming, die die kriminologischen Erkenntnisse zum Phänomen und gesellschaftliche Bekämpfungsstrategien und -bedingungen mit einer strafrechtlichen Betrachtungsweise kombiniert. Alexiou hat hier jüngst erste wichtige Vorarbeiten geleistet, wobei sie v. a. Täterprofile und die Rechtmäßigkeit des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB analysiert hat38. Dabei fehlt es jedoch an den kriminologischen Erklärungsansätzen, beispielsweise dazu, warum Täter offenbar im digitalen Raum so unkontrolliert aktiv sein können, warum die Zahlen der kindlichen und jugendlichen Tatverdächtigen stetig steigen und ob die gesellschaftlichen Reaktionsmechanismen auf diese Phänomene überhaupt