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[44] In diesem Sinne können gewalttätige Jugendliche nach den Motiven ihres Tuns befragt, die Empfindungen der Opfer ermittelt, der prügelnde Vater auf seine „Erziehungspraxis“ und deren mögliche Spätfolgen angesprochen und daraus eine Deutung des Geschehens in seiner interaktiven Vernetzung vorgenommen werden. Auf die wissenschaftliche Deutung reagiert das Untersuchungsfeld wie die Gesellschaft insgesamt und verlangt nach neuerlicher Prüfung der Sinnadäquanz dieser Deutung. Dem Modell des Erklärens sind solche Zugänge zu den Sinngebungen menschlichen Handelns und der Praxis der gesellschaftlichen Verständigung darüber versperrt. Es reduziert in seiner Beobachtung der Gesellschaft deren sinngebende Strukturen auf buchstäblich „sinnlose“ naturhafte Gegebenheiten.46
IV. Schlussfolgerungen
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Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens in der deutschen Kriminologie immer noch vorherrschend ist. Die Dominanz des Erklärens in der Kriminologie ist naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 8 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.
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Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstandes wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch die Beobachtenden. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive bleibt diese Ebene jedoch verborgen.
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Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen bezüglich Normabweichung und Kriminalität auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminolog:innen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminolog:innen greifen ein Thema auf, welches bereits mit Bedeutungen versehen ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie [45] müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Lai:innen es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.
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Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen
Kausales Erklären | Interpretatives Verstehen | |
Modell | Monistisch: erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines Naturgeschehens | Dualistisch: Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden |
Sozialwelt als Gegenstand | Unabhängig von den Beobachtenden als mit ihnen nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhanden | Forschende sind mit Sozialwelt reflexiv verbunden: sie haben daran Anteil, agieren mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse |
Beobachtung | Erfolgt einseitig: Beobachtende → Objekt | Verläuft interaktiv: Beobachtende ↔ Objekt |
Methode | Quantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiert | Qualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der:die Handelnde mit seinem Handeln verbindet |
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Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Lai:innenverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven Standpunkt, sondern nur Standpunkte in ihr, die den Beobachtenden einbeziehen, die seine Wahrnehmung perspektivisch und seine Feststellungen bestreitbar machen.
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Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von Debatten in den Medien, der Politik oder am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer erläutert werden.
§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit
[46] Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.
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An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, der mitfühlenden Angehörigen, der spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesenden geprägt. Die subjektive Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.47
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Ausdruck eines solchen möglichst wertungsfreien Zugangs zum Thema ist die Ablösung der Bezeichnungen „Kriminelle:r“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist