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Jede Wahrnehmung der sozialen „Dinge“ beruht also auf einem von ihnen gewonnenen persönlichen Eindruck, der das Wahrgenommene wertend nach Belangvollem und Unbedeutendem strukturiert und den Dingen Sinn beimisst. Da die Wahrnehmung sozialer „Dinge“ stets mit subjektiver Sinngebung verbunden ist, kommt auch die Wissenschaft nicht ohne sie aus.38 Wo sich die soziale Welt durch diskursive Praktiken bildet und erschließt, müssen auch die Forschenden diese Praktiken rekonstruieren und dabei auf dieselben Fertigkeiten zurückgreifen, welche diejenigen ausüben, deren Verhalten sie zu analysieren versuchen. Die Sozialwissenschaft ist deshalb bei der Reinterpretation ihres durch Vor-Interpretationen sozialer Akteur:innen gebildeten Themas in den Prozess gesellschaftlicher Bedeutungs- und Identitätsstiftung eingebunden und wirkt mit ihren wissenschaftlichen Interpretationen auf den gesellschaftlichen common sense zurück.
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Dies gilt für die Kriminologie in besonderer Weise. Kriminalität ist keine natürliche Gegebenheit, kein Objekt, das ohne die Beimessung von Sinn und Bedeutung verstanden werden könnte, sondern ein Produkt des gesellschaftlichen [41] Diskurses. Kriminalität ist ein „negatives Gut“39, das mit ausgrenzender Distanz, Stigmatisierung und Beschneidung von Ressourcen assoziiert wird. Was als Kriminalität verstanden wird, ist gesellschaftlich ausgehandelt. Das Erkennen von Kriminalität verlangt deshalb, diese Aushandlungen und Assoziationen unter Einbringung des eigenen Vorverständnisses interpretierend nachzuvollziehen.40
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Die verstehende Perspektive macht deutlich, dass der Mensch und seine Handlungen nicht bloß passives Produkt externer gesellschaftlicher Kräfte sind, auch wenn die Gesellschaft ihn und sein Verhalten prägt. Die „Prägung“ ist eine durchaus wechselseitige, dialektische. Denn soziales Handeln wirkt auf eine symbolisch vermittelte gesellschaftliche Umwelt verändernd ein, die ihrerseits individuelle Reaktionen stimuliert, wobei durch reflexive Verarbeitung von Umwelteinflüssen ein neues Identitätsverständnis geformt wird. Darum muss menschliches Handeln auf der Basis des Selbstverständnisses der Akteur:innen und der Bedeutung, die sie ihrem Handeln beilegen, erschlossen werden. Anders als bei einem Naturgeschehen, das sich durch Bestimmung von Ursachen erklären lässt, geht es hier um das Verstehen menschlichen Handelns.41
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Danach geht es in den Sozialwissenschaften darum, die Bedeutungen und Sinnsetzungen, die Menschen mit ihrem Handeln verbinden, deutend zu rekonstruieren, also gleichsam Bedeutungen von Bedeutungen zu erstellen. Dies wirkt auf den gesellschaftlichen Diskurs über Bedeutungen menschlichen Handelns zurück, gibt ihm Anregungen und neue Akzente. In der kreislauf- oder besser spiralförmigen Dynamik dieser Entwicklung reproduziert sich die Gesellschaft stets aufs Neue, stiftet ihre Identität und findet so zu sich selbst.
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Die unvermeidbar zirkuläre Struktur des Verstehens der Bedeutungen menschlichen Handelns wird gemeinhin als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Dieser ist, um im Bilde zu bleiben, jedoch eher eine weiterführende Spirale als ein sich fruchtlos im Kreise drehendes Gebilde. Denn das anfängliche Verständnis, das Vorverständnis der Interpretierenden, wird an den vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Sinnsetzungen geprüft, die Sinnerwartung gegebenenfalls geändert, diese neuerlich mit gesellschaftlichen Deutungen konfrontiert und so weiter. Fern einer nicht erzielbaren strengen Objektivität gelten dabei die Gebote von Sinnadäquanz und diskursiver Begründbarkeit.
[42] „Die Soziologie […] hat es mit einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich Handelnden selbst konstituiert ist, und sie reinterpretiert diese innerhalb ihrer eigenen Theoriekonzepte, indem sie normale und Theoriesprache vermittelt […] es gibt ein fortwährendes ‚Abrutschen‘ der in der Soziologie geschaffenen Begriffe in den Sprachschatz derer, deren Verhalten mit ihnen eigentlich analysiert werden sollte […].“42
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Da die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, in den gesellschaftlichen Prozess der Sinnstiftung menschlichen Handelns eingebunden ist, folgt auch sie dem erkenntnisleitenden Prinzip einer „doppelten Hermeneutik“43. Es gilt, sich beim kriminologischen Rückgriff auf das rechtlich und sozial vorinterpretierte Thema Kriminalität die Einbindung der Kriminologie in den nicht zum Ende kommenden Prozess der gesellschaftlichen Reinterpretation dieses Themas bewusst zu machen. Die wissenschaftlichen Interpretationen dessen haben Rückwirkung auf das gesellschaftliche Verständnis. Dieses Vorgehen lässt sich auch als Reflexivität gesellschaftsbezogenen Erkennens bestimmen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ist die sich über Sinnsetzungen verständigende Gesellschaft reflexiv; zum anderen verdoppelt deren wissenschaftliche Beobachtung diese soziale Reflexivität.
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Angesichts der beschriebenen Prozesse befindet sich der Forschungsgegenstand in laufender Veränderung. In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Deutungsmodelle bevorzugt werden. So wird Kriminalität heute – anders als noch vor dreißig Jahren – weniger als sozialschädliches Verhalten verstanden, das nach Reaktionen verlangt, sondern eher als Risiko, das vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dementsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von der Reaktion zu präventiven Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter:innen durchbrochen wurde. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ § 22 Rn 18 ff.).
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[43] Das Verstehensmodell in der Kriminologie bestimmt damit auch seinen Forschungsgegenstand in anderer Weise. Das Interesse gilt zum einen den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle – was wird unter welchen Umständen als Kriminalität verstanden? Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt – warum handeln Menschen auf diese Weise? Die Kriminologie betrachtet diese Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer tatsächlichen Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.
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Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil die charakteristische Besonderheit einzelner Formen von Kriminalität weniger in diesen selbst liegt, sondern in ihrer deutenden Bestimmung. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden erst durch Deutungen gebildet. Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ beschreiben nicht vorrangig Phänomene, sondern sind Ausdruck gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnisse, die zu bestimmten Zeiten vorhanden sind und sich wandeln.
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In Anlehnung an die dem Erklären komplementäre Erkenntnisform des Verstehens hat sich in der empirischen Sozialwissenschaft neben der objektivierenden quantitativen Forschung eine eigenständige Richtung qualitativer Forschung herausgebildet (→ § 5 Rn 2 f.). Diese unternimmt anhand einer in der Regel geringeren Basis von Daten oder Beobachtungen Sondierungen in die Tiefe.