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Die Praxis der deutschsprachigen Kriminologie wird indes nach wie vor von dem vorherrschenden Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) bestimmt. Danach gilt es, „die Gesamtheit des Erfahrungswissens“53 zu sammeln und zu ordnen. Kriminologie wird so als Erfahrungswissenschaft verstanden, die sich auf die Beobachtung erhobener Fakten gründet und die gewonnenen Wahrnehmungen an theoriegeleiteten Hypothesen überprüft. Ziel ist die Gewinnung eines „festen Bestandes an gesichertem Wissen“54. Damit soll sich die Kriminologie zu einer „harten“ Wissenschaft entwickeln, die streng auf aussagekräftigen Beobachtungen beruht.55 Der in den Sozialwissenschaften unhaltbare Rigorismus eines „wertfreien“ Erkennens vermittelt den trügenden Eindruck, die Sozialwelt sei als eine Fülle vermeintlich naturalistisch beobachtbarer „Befunde“, „Daten“ oder „Tatsachen“ vorgegeben.
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Diesem Eindruck entspricht die Vorstellung, die erhobenen Beobachtungen ergänzten einander und würden sich, Mosaiksteinchen ähnlich, à la longue zu dem linearen Gesamtbild eines gesicherten Wissensbestandes zusammenfügen. [51] Diese Vorstellung eines schrittweisen Erkenntnisfortschritts durch quantitatives Wissenswachstum wäre nur in dem Maße zutreffend, wie homogene Erkenntnisraster verwandt und Beurteilungen getroffen würden, über die in der Forschendengemeinschaft Konsens bestehen. Indes ist jede Erhebung von Daten theorie- bzw. hypothesengeleitet. Die jeweils gewählten methodischen Instrumente bestimmen die Untersuchungsanordnung, die sich notwendig auf die Prüfung bestimmter Aspekte des zu untersuchenden Phänomens beschränkt. Die theoriegeleitete Wahl des Untersuchungsfeldes und die Entscheidung, gewonnene Ergebnisse als vorläufig verbindlich zu akzeptieren, verlangen wertende Entschlüsse, die nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar sind, sondern nur in dem Maße Gültigkeit beanspruchen, wie sie diskursiv begründet, argumentativ belastbar und von der Gemeinschaft der Forschenden akzeptiert sind.
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Der von der kriminologischen Bedarfsforschung (→ § 1 Rn 8) erweckte falsche Anschein der strikt wertneutralen Wissensproduktion trifft jedoch den Bedarf der Politik. Von der Vorstellung scheinbar makellos wertfrei gewonnener Befunde geht eine Faszination aus, der die praktische Kriminalpolitik bereitwillig erliegt. Die Magie scheinbar eindeutiger „Fakten“ verleiht dem kriminalpolitischen Argument, das sich darauf bezieht, etwas vermeintlich Objektives und Definitives. Foucault macht angesichts dessen für diese Richtung eine „geschwätzige und aufdringliche“ Anbiederung an die offizielle staatlich dominierte Kriminalpolitik aus:
„Haben Sie schon Texte von Kriminologen gelesen? Da haut es Sie um. Ich sage das nicht aggressiv, sondern erstaunt, weil ich nicht verstehen kann, wie dieser Diskurs der Kriminologen auf diesem Niveau bleiben konnte. Er scheint für das System so nützlich und notwendig zu sein, dass er auf theoretische Rechtfertigung oder methodische Konsistenz verzichten zu können glaubt. Er ist einfach ein Gebrauchsartikel.“56
12 Die quantifizierende empirische Erfassung und Erklärung von „Sozialdaten“ bildet die soziale Welt nicht ab, sondern simuliert diese in einem Artefakt, dessen Struktur durch die empirische Recherchetechnik vorgegeben ist. Der dem naturwissenschaftlichen Experiment nachgebildete empirische Erfahrungstest reproduziert durch Verwendung von standardisierten Fragebögen und statistischen Auswertungsverfahren Individuen und ihr Handeln so, als ob es sich dabei um mikroskopische Präparate handelte, deren Merkmale objektivmessbar [52] seien. Ausgeblendet bleiben dabei die nur verstehend erschließbaren Intentionen der Agierenden kriminalisierter und kriminalisierender Handlungen, die intersubjektiven Wirkungszusammenhänge, die mitmenschlich nachfühlbare Leidensgeschichte von Opfern und Bestraften, kurz: die spezifisch menschliche Subjektivität von Kriminalität und Kriminalisierung. Die Umformung dieser Subjektivität in empirisch erfassbare Eigenschaften von Subjekten muss deren Handlungen als durch solche Eigenschaften im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit determiniert verstehen.57 Objektivierende quasi naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen in der Kriminologie tragen dazu bei, die „Kriminellen“ als autonome Personen zu vernichten.
„Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de lui.“58
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Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die
■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;
■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteur:innen und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;
■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.
Eine solche sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.
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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.59 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht60 und uns in die Abgründe der Psyche von Täter:innen, Opfern und Verfolgenden blicken lässt61. Die Poesie von Charles Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.62 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.63 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.64 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.
§ 4 Geschichte der Kriminologie
I. Anfänge und Wegbereiter kriminologischen Denkens
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[53] Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine