4. Der grobe Behandlungsfehler: Begriff und Bedeutung im Strafrecht
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Wie die vorstehenden Ausführungen deutlich machen, kann jedes Fehlverhalten, jedes noch so geringfügige Versagen des Arztes zur strafrechtlichen Verurteilung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts führen, da der Grad der Fahrlässigkeit, die Schwere des Fehlers für die Frage, ob jemand strafbar ist, keine Bedeutung hat. Es gibt also kein „Arztprivileg“[73] und auch „der Sache nach“ keine Beschränkung der strafrechtlichen Verfolgung „auf schwere Verstöße“.[74] Auch „verständliche Versehen“ sind nicht ohne weiteres deshalb als unvermeidbar anzusehen, weil sie selbst „dem erfahrensten Arzt einmal unterlaufen können“[75] (vgl. aber zur individuellen Schuld Rn. 589 ff.).
a) Strafrechtliche Relevanz des groben Behandlungsfehlers
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Ob ein grober Behandlungsfehler oder nur ein leichteres Versehen vorliegt, spielt allerdings im Rahmen der Strafzumessung für die Höhe der Strafe sowie für die Art der Verfahrenserledigung (Einstellung gemäß § 153a StPO, Strafbefehl, Anklage mit nachfolgender Hauptverhandlung) oft eine entscheidende Rolle und ist daher nicht nur im Zivilrecht (siehe § 630h Abs. 5 BGB), sondern auch im Strafrecht von erheblicher praktischer Bedeutung. Umso bedauerlicher ist es, dass vielfach „Leichtfertigkeit“, „Leichtsinn“ oder „grobe“ Fahrlässigkeit ohne exakte Subsumtion und Begründung angenommen wird. Dabei wird hier nicht verkannt, dass die Antwort auf diese Frage eine Wertung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalles voraussetzt, weshalb die Entscheidung stark von der persönlichen – milderen oder strengeren – Auffassung des Urteilenden abhängt. Aber unbeschadet dieses zweifellos gegebenen Beurteilungsspielraumes muss, wie der BGH zutreffend festgestellt hat, die rechtliche Würdigung erkennen lassen, „dass der Tatrichter hierbei die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgezeigten Maßstäbe zugrunde gelegt“ hat.[76]
b) Leichtfertigkeit und grobe Fahrlässigkeit
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Abgesehen davon sind die Begriffe des Zivil- und Strafrechts nicht identisch. Leichtfertig handelt strafrechtlich, wer die gebotene Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße schuldhaft verletzt, z.B. die Möglichkeit der Körperverletzung oder des Todes des Patienten aus besonderem Leichtsinn oder besonderer Gleichgültigkeit nicht bedenkt, obschon sich ihm die Tatbestandsverwirklichung hätte aufdrängen müssen.[77] Objektiv entspricht die Leichtfertigkeit der groben Fahrlässigkeit im Zivilrecht, doch wird strafrechtlich im Schuldbereich auf die individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse des Handelnden abgestellt.[78] Im Strafrecht enthält die grobe Fahrlässigkeit also nicht nur das objektive Kriterium einer Sorgfaltspflichtverletzung „in besonders schwerem, ungewöhnlichem Maße“, sondern zusätzlich einen subjektiven Vorwurf, so dass Beurteilungsgrundlage auch die persönlichen Verhältnisse des Täters sind,[79] also z.B. Unbeholfenheit, Unerfahrenheit, Übermüdung, Arbeitsüberlastung, Eilbedürftigkeit u.a. Solche Umstände können ein sorgfältiges Handeln erschweren und damit dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entgegenstehen.[80] Im Zivilrecht setzt der grobe Behandlungsfehler hingegen keine „grobe Fahrlässigkeit“ des Handelnden/Unterlassenden voraus.[81]
c) Definition des groben Behandlungsfehlers
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Inhaltlich ist ein „grober“ Behandlungsfehler aus Sicht des Zivilrechts „ein eindeutiger, fundamentaler Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse, der nach den gesamten Umständen des Einzelfalles aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint und einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf“.[82] Dabei müssen „gesicherte medizinische Erkenntnisse“ nicht unbedingt Eingang „in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige ausdrückliche Handlungsanweisungen gefunden haben“, sondern „elementare medizinische Grundregeln“ für das jeweilige Fachgebiet darstellen.[83] Deshalb scheidet die Annahme eines „groben“ Behandlungsfehlers aus, wenn mehrere Sachverständige einander in der Bewertung des ärztlichen Verhaltens widersprechen. Dieser Umstand verbietet es, von einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte Behandlungsregeln auszugehen.[84]
Demgegenüber ist der „einfache“ oder auch „gewöhnliche“ Behandlungsfehler dadurch gekennzeichnet, dass es sich um ein Versagen handelt, „wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantwortungsbewussten Arzt zwar zum Verschulden gereicht, aber doch passieren kann“. Maßgebend für die rechtliche Beurteilung als „grober Behandlungsfehler“ ist also, ob der Arzt
1. | „eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen“ verstoßen,[85] oder |
2. | „auf eindeutige Befunde nicht nach gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert,“[86] oder |
3. |
„grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher,
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