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In diesem rein objektiv geprägten Sinn entspricht der Begriff des „Kunstfehlers“ dem des „Behandlungsfehlers“, da die Kunstregeln letztlich nichts anderes als ärztliche Sorgfaltsgebote sind, die „auf der schlichten Überzeugung und praktischen Übung einer breiten Mehrheit der Fachkollegen beruhen,“[17] also den ärztlichen Standard darstellen. Ebenso wie vom Standard ist in Ausnahmesituationen ein Abgehen von der Kunstregel erlaubt, u.U. sogar geboten, und umgekehrt können Sorgfaltspflichtverletzungen auch ohne Qualifizierung als „Kunstfehler“ auftreten, etwa in Bereichen medizinischen „Neulands“, in denen sich derartige verbindliche Kunstregeln noch nicht herauskristallisiert haben. Da es somit Sorgfaltsverletzungen gibt, die nicht Kunstfehler sind, und Verstöße gegen Kunstregeln, ohne dass eine Pflichtwidrigkeit vorliegt, ist die Gleichsetzung beider Begriffe unrichtig[18] und daher ein weiterer Grund, ausschließlich den Terminus „Behandlungsfehler“ für die Verletzung des fachärztlichen Standards zu verwenden, der selbst wieder nur eine konkretisierende Bezeichnung für die tatbestandsmäßige Sorgfaltspflichtverletzung ausmacht.
3. Klassifikation der Behandlungsfehler
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Es würde zu weit führen, das breit gefächerte Feld der ärztlichen Behandlungsfehler anhand konkreter Fallbeispiele im Einzelnen näher zu beleuchten.[19] Eine abstrakt-generelle Systematisierung durch Bildung von Untergruppen erscheint jedoch sinnvoll, um die Vielfalt der möglichen Pflichtverstöße übersichtlich zu veranschaulichen. Wenig ergiebig ist in diesem Zusammenhang allerdings die zeitlich-formale Differenzierung in prä-, intra- und postoperative Behandlungsfehler, zumal dabei nur die operativen Fächer – und auch diese nur in ihrem Kernbereich – angesprochen werden.
Aussagekräftiger, aber immer noch nicht konkret genug, ist die Klassifizierung von Deutsch, der „unter dem Aspekt der Art der Verfehlung“ die Nichtbehandlung, die abweichende Behandlung, die Übermaßbehandlung, den Begleitfehler und den Informationsfehler“ im „eigentlich ärztlichen Bereich“ unterscheidet und von diesem die „allgemeinen Fehlleistungen“ trennt, die „jedem anderen Berufstätigen in seinem Fachgebiet ebenso unterlaufen können“[20].
Eine anschauliche, sachbezogen-materielle Untergliederung der Behandlungsfehler für alle medizinischen Fachgebiete ergibt sich jedoch, wenn man das einschlägige Rechtsprechungsmaterial durchforstet und dabei aus den häufigsten Fehlleistungen typische Fallgruppen bildet:
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1. | Diagnosefehler, falsche Indikationsstellung.[21]Grundlage der ärztlichen Behandlung der Patienten ist die Diagnose, d.h. die Feststellung und medizinische Beurteilung gesundheitlicher Störungen und Beschwerden durch Anamnese, Untersuchung und Auswertung der erhobenen Befunde. Dabei setzt ärztliche Diagnostik im Regelfall die körperliche Untersuchung und Verschaffung eines eigenen Eindrucks vom Patienten voraus.[22] „Diagnose ist ein dynamischer Begriff, eine Funktion der Zeit und fast nie von vorneherein abgeschlossen“.[23] Da die einwandfreie Diagnose deshalb erhebliche Schwierigkeiten, vornehmlich zu Beginn und bei symptomarmem Verlauf einer Krankheit macht, ist zwischen einem „Diagnosefehler“ und einer „Fehldiagnose“ streng zu unterscheiden, d.h. „nicht jeder Diagnoseirrtum gleichsam unbesehen als haftungsbegründendes ärztliches Fehlverhalten“ zu qualifizieren.[24] Denn eine (objektiv) falsche Diagnose beruht nicht stets auf einer fehlerhaften Diagnosestellung, oder anders formuliert, nicht jede sich ex post als falsch erweisende Diagnose ist unter Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfaltspflicht zustande gekommen. Die Indikationsstellung zur Operation unter der Ex-ante-Annahme einer akuten Appendizitis auf Grund des klinischen Gesamteindrucks z.B. muss daher nicht fehlerhaft sein, selbst wenn es sich objektiv im Nachhinein um eine Fehldiagnose handelte.[25] Auch die Rechtsprechung erkennt diese Tatsache an: |
„Irrtümer bei der Diagnosestellung kommen in der Praxis häufig vor; sie sind oft nicht einmal die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes“, da „die Symptome der Erkrankungen nicht immer eindeutig sind, sondern auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können“ und die vorläufige Diagnose daher „mit hohen Unsicherheitsfaktoren belastet“ ist.[26] „Jeder Patient kann wegen der Unterschiedlichkeit des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen“.[27] Der Arzt muss „in ein Erkenntnis-dunkel hinein therapieren“.[28] Tröndle[29] hat deshalb zutreffend darauf hingewiesen, dass es eine absolut sichere Diagnose nicht gibt, sondern nur eine mehr oder weniger richtige Erkenntnis des Krankheitsbildes. Wegen des dem Arzt im Bereich der Diagnose zustehenden weiten Beurteilungs- und Bewertungsspielraums erlaubt nach ständiger Rechtsprechung ein Diagnoseirrtum „nicht einmal den verlässlichen Schluss auf eine einfache Fahrlässigkeit,“[30] stellt also regelmäßig keinen Behandlungsfehler dar,[31] und eine Fehlinterpretation von Befunden ist nur bei einem „fundamentalen Irrtum“ als „grober“ Pflichtverstoß zu qualifizieren.[32] Bei der Annahme eines Behandlungsfehlers ist also Zurückhaltung geboten,[33] die „Messlatte, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu gelten hat, liegt besonders hoch“.[34] |
Im diagnostischen Bereich rechtfertigt sich der Vorwurf schuldhaften ärztlichen Verhaltens damit nur dann,
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wenn der Arzt ein eindeutiges, klares Krankheitsbild infolge Unachtsamkeit oder mangels ausreichender Erfahrung verkennt bzw. Krankheitserscheinungen in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise deutet (also bei medizinisch gänzlich unhaltbaren Fehleinschätzungen = fundamentalem Irrtum),
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wenn elementare Kontrollbefunde nicht oder zu spät[35] erhoben werden oder
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wenn der Arzt es unterlässt, eine vorläufige Diagnose im Zuge der weiteren notwendigen Behandlung oder Untersuchung zu überprüfen.[36] Dabei ist „auf den Einzelfall und das konkrete Beschwerdebild, so wie es sich dem Arzt darstellte“, also aus der Sicht ex ante abzustellen.[37]
Der Arzt muss daher nicht unbedingt sofort die richtige Diagnose stellen. Legt er jedoch als Arbeitshypothese eine Krankheit zugrunde, die differenzialdiagnostisch nach den Ergebnissen der körperlichen und medizinisch-technischen Untersuchungen sogar auszuschließen oder höchst unwahrscheinlich ist, und geht er dem Verdacht auf eine andere, naheliegende Krankheit nicht nach, so handelt er fehlerhaft.[38] Gleiches gilt, wenn er bei unklarer Diagnose seinen Überlegungen nicht die vital bedrohlichste Erkrankung zugrunde legt.[39] Hat der Arzt dagegen die medizinisch gebotenen Befunde erhoben und „die notwendigen abklärenden Maßnahmen“ ergriffen oder „durch einen kompetenteren Spezialisten vornehmen lassen“, scheidet ein Diagnosefehler aus, wenn die Beurteilung des Krankheitsbildes danach „vertretbar“ war.[40] Eine „Überdiagnostik“ in Gestalt einer für den Einzelfall sinnlosen, nur der Absicherung des Arztes dienenden schematischen Durchführung aller nur denkbaren Untersuchungsmethoden ist keinesfalls erforderlich.[41] Dies würde eine Datenflut auslösen, die die Beurteilung des Krankheitsbildes
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