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Daraus leitet sich nicht nur die Pflicht des Arztes zur sachgerechten, sorgfältigen Behandlung des Patienten ab, sondern auch die Pflicht, sich dessen Einwilligung in die notwendigen Behandlungsmaßnahmen zu versichern, „die er, will er das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wahren, wirksam nur erhalten kann, wenn er ihm dabei die erforderlichen Entscheidungsgrundlagen vermittelt“.[82] „Jede medizinische Behandlung hat“ – so formuliert es die Musterberufsordnung für Ärzte – „unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen“ (§ 7 Abs. 1 MBO-Ä). § 8 MBO-Ä sieht zu diesem Zweck auch das Bedürfnis nach einer Einwilligung vor, die grundsätzlich auf eine Aufklärung zu stützen ist.
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Denn „niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich“.[83] Es gibt also kein sog. therapeutisches Privileg, keine „Vernunfthoheit“ des Arztes über den kranken Menschen (näher auch Rn. 407 ff.), so dass dessen „Recht auf Unvernunft“ durchaus in Kollision mit dem ärztlichen Heilauftrag treten kann:
„Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken ohne dessen Billigung vornähme. Denn ein selbst lebensgefährlich Kranker kann triftige und sowohl menschlich wie sittlich achtenswerte Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch sie von seinem Leiden befreit werden könnte“.[84]
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Der frei verantwortlich gebildete Patientenwille hat also Vorrang vor dem Patientenwohl! „Der Autonomiegedanke und seine juristische Absicherung“ bilden „das exakte Gegengewicht zu den technisch gewachsenen, geradezu inflationär gewordenen Missbrauchsmöglichkeiten der modernen Medizinentwicklung“.[85] „Weder die Gesellschaft als Ganzes noch ein Arzt als Einzelperson“ haben das Recht, „einen Kranken in der Weise zu bevormunden, dass ihm Behandlung gegen seinen Willen aufgedrängt wird“.[86] Gegen den „ausdrücklichen und ernstlichen Willen des Kranken darf der Arzt nicht zu dem Eingriff schreiten“.[87] Der Patient „darf sich bei seiner Entscheidung für oder gegen eine ihm empfohlene Maßnahme von übervorsichtigen und aus medizinischer Sicht unvernünftigen Erwägungen leiten lassen“.[88] Allerdings: Erkennt der Arzt die Notwendigkeit eines Eingriffs oder eines Mittels oder muss er sie erkennen, so gehört es zu seinen Pflichten, den Patienten „mit allem Nachdruck und eindringlich“ hierauf hinzuweisen, um dessen Zustimmung zu erlangen.[89]
b) Entwicklung der Aufklärungspflicht
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In der Ärzteschaft ist diese Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts auf Kritik, teilweise auch entschiedenen Widerspruch und Unverständnis gestoßen. Man hält die Aufklärungsanforderungen für „praktisch unerfüllbar“[90] und der Sache nach für verfehlt, da sie sich „auf Heilung und Sicherheit ungünstig auswirken“.[91] „Schweigenkönnen und Schweigenmüssen des Arztes“ seien „notwendige Voraussetzungen und Bestandteile seiner Kunst“.[92] Dabei komme „der Kranke zu seinem Recht, aber es ist das Vorrecht seines Arztes, darüber von Fall zu Fall, von Mensch zu Mensch zu entscheiden“.[93] Diese paternalistische, heute überholte ärztliche Grundeinstellung spiegelt sich auch in den ersten einschlägigen Entscheidungen des Reichsgerichts wider. Nachdem zunächst nur die Behandlung des Patienten gegen seinen Willen für rechtswidrig erachtet und die weitergehende Problematik der ärztlichen Aufklärungspflicht zur Sicherung umfassender Selbstbestimmung des Patienten im Behandlungsprozess überhaupt nicht aufgeworfen worden war, tauchte sie erstmals höchstrichterlich im Jahre 1912 im Zusammenhang mit dem Einwilligungsproblem auf. In seinem Urteil[94] verneinte das RG die Rechtspflicht des Arztes zur Aufklärung über eventuell schädliche Operationsfolgen. Denn diese lasse
„sich weder aus der Übung der pflichtgetreuen und sorgfältigen Vertreter des ärztlichen Berufes noch aus inneren Gründen herleiten. Eine umfassende Belehrung des Kranken über alle möglichen nachteiligen Folgen der Operation würde nicht selten sogar falsch sein, sei es, dass der Kranke dadurch abgeschreckt wird, sich der Operation zu unterwerfen, sei es, dass der Kranke durch die Vorstellung der mit der Operation verbundenen Gefahren in Angst und Erregung versetzt und so der günstige Verlauf der Operation und der Heilung gefährdet wird“.
Worüber der Arzt den Patienten zu belehren hat, bleibt in der Entscheidung offen und ganz vom ärztlichen Ermessen abhängig,[95] wobei deutlich eine „Warnung vor Überspannung der Aufklärungspflicht und vor Überforderung des Arztes“ zum Ausdruck kommt.[96]
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Diese – mit der ärztlichen Sicht übereinstimmende – Einstellung der Rechtsprechung hielt sich bis Mitte der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, ehe das Reichsgericht dann eine „außerordentlich auffallende“ Kehrtwendung vollzog, indem es „überraschenderweise den Gedanken ärztlicher Fürsorge“ gänzlich hintanstellte und einseitig die Pflicht des Arztes betonte, „das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu respektieren“.[97] Dieses sei „so allgemeiner Natur und durch so wohlbegründete Erwägungen gefordert, dass die aus der Sorge um Schonung des Patienten hervorgehenden ärztlichen Bedenken gegen volle Aufklärung“ zurücktreten müssten. Damit war der Primat der Selbstbestimmung begründet, an den der BGH nach dem Krieg nahtlos anknüpfte und 1954[98] erstmals mit dem Rückgriff auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Patienten untermauerte. Seither lässt sich eine stetig voranschreitende Zurückdrängung pauschal paternalistischer Vorstellungen beobachten, bei der freilich eine bereichsabhängige Notwendigkeit zur Fürsorge zu beachten bleibt – Patienten sind nicht stets zur Selbstbestimmung überhaupt in der Lage.[99]
c) Verschärfung der Aufklärungsanforderungen
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Die folgende Entwicklung der Aufklärungsjudikatur, die weitestgehend zivilrechtlich geprägt ist, zeigt eine stetig zunehmende Verschärfung der Aufklärungsanforderungen zugunsten einer Stärkung der Patientenrechte, die in der Rechtsverbindlichkeit der Patientenverfügung (§ 1901a BGB) ihren deutlichen Ausdruck gefunden hat und auch das ausdrückliche Ziel des Patientenrechtegesetzes war, das zu den §§ 630d und 630e BGB geführt hat.[100] „Das Recht auf Selbstbestimmung, die dem Einzelnen zukommende Entschließungsfreiheit und die Menschenwürde verlangen gebieterisch nach einer Unterrichtung des Patienten“, heißt es nunmehr mit großem Nachdruck und der Konsequenz, dass die „Aufklärungspflicht des Arztes grundsätzlich als Rechtspflicht neben seiner Pflicht zu heilen steht“.[101] Im Zuge dessen wurde jedoch die Gefahr der Überdehnung in strafrechtlicher Hinsicht begründet, der die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften entgegentreten müssen (dazu schon Rn. 352).
Anmerkungen
S. auch