Leider fand die neue Hauptverhandlung jedoch nicht mehr statt, da der angeklagte Arzt zuvor verstorben war – nach den Worten Tröndles „ein Opfer, das dem Selbstbestimmungsrecht einer geheilten Patientin dargebracht worden ist“.[35] Obwohl der Eingriff absolut indiziert und lege artis durchgeführt worden war, musste der Chefarzt, nur weil er eine bestimmte Komplikation nicht vorausgesehen und darüber die Patientin nicht aufgeklärt hatte, zwei landgerichtliche Hauptverhandlungen und zwei Revisionsverfahren vor dem BGH durchstehen. Lediglich sein Tod verhinderte, dass es – nach vierjähriger Prozessdauer – noch zu einer fünften Hauptverhandlung wegen dieses Vorwurfs kam. Die psychischen und physischen Belastungen eines Strafverfahrens könnte man kaum eindrucksvoller belegen.
e) Übernahme und Einschränkung der Zivilrechtsjudikatur im Strafrecht
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Wenngleich der Ursprungsort des Problems im Strafrecht liegt,[36] wurden die maßgeblichen Richtpunkte zur ärztlichen Aufklärungspflicht in zivilen Haftungsprozessen um Schadensersatz- und Schmerzensgeld entwickelt und sind dort heute in § 630e BGB (mit § 630d Abs. 2 BGB) ohne Abschwächung kodifiziert. Diese Tatsache führt dazu, dass Staatsanwälte und Strafrichter bei der Prüfung der Risikoaufklärung bisweilen lediglich auf die im Zivilrecht geltenden „Grundsätze“ verweisen,[37] obschon mindestens eine individuelle Fahrlässigkeit im Strafrecht zu prüfen bleibt (siehe Rn. 342 ff. und Rn. 589 ff.). Doch obgleich es sowohl bei der zivil- als auch bei der strafrechtlichen Beurteilung der Rechtswidrigkeit des medizinischen Eingriffs um die erforderliche Einwilligung des Patienten geht und diese einheitlich zu beurteilen ist,[38] wird die Vorfrage ordnungsgemäßer Aufklärung im Zivil- und Strafprozess unter völlig verschiedenem Blickwinkel gestellt. Im Strafverfahren geht es darum, ob der Aufklärungsmangel „ein solches Gewicht hat, dass er die schwerwiegende Folge einer Kriminalstrafe rechtfertigt,“[39] also zu einer persönlich außerordentlich belastenden Sanktion führen soll. Im Zivilprozess ringen die Parteien dagegen um Schadensersatz und Schmerzensgeld, also ausschließlich um materielle Interessen, wobei auf der einen Seite oftmals ein schwergeschädigter, überaus bemitleidenswerter Patient und sein beklagenswertes Schicksal stehen, während auf der anderen Seite ein wirtschaftlich potenter Krankenhausträger und eine „reiche Versicherungsgesellschaft“ agieren. Angesichts dieser Konstellation kann es nicht wundern, wenn bei der Bestimmung von Maß und Umfang ärztlicher Aufklärung oft mehr oder weniger deutlich bzw. unausgesprochen Billigkeitserwägungen, Mitleidseffekte und der Aspekt des Helfenwollens eine Rolle spielen. Unter Hinweis darauf mag ein Schadensausgleich oft vertretbar, vielleicht sogar gerecht sein.
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In der zivilgerichtlichen Praxis besteht deshalb die „unverkennbare Neigung zu einer richterlichen Fortune-Korrektur“, nämlich im Kunstfehlerprozess die „Ansprüche aus Behandlungszwischenfällen möglichst auf das Aufklärungsgeleise zu schieben,“[40] worin der „kompensatorische Effekt der Aufklärungsrüge zugunsten des Geschädigten“[41] deutlich zutage tritt. Tröndle hat deshalb weithin Recht, wenn er feststellt:
„In vielen zivilrechtlichen Haftungsprozessen wurde über eine Überdehnung der ärztlichen Aufklärungspflicht das Ergebnis gesucht und gefunden, das auf direktem Wege, nämlich durch Berufung auf einen schweren Kunstfehler, nicht oder nur schwer begründbar schien. So erklärt sich, dass in der Frage der ärztlichen Aufklärungspflicht […] Zivilrichter strenger urteilen als ihre strafrichterlichen Kollegen, die mit Recht vor der Überspannung der ärztlichen Aufklärungspflicht warnen“.[42]
Auch im Zivilrecht hat der BGH allerdings erkannt, dass die Aufklärungsrüge missbräuchlich „als Instrument für eine Behandlungsfehler-Haftung ohne Behandlungsfehler-Nachweis“[43] eingesetzt wird, und ist dem durch die hypothetische Einwilligung und mit ihr verbundene Beweiserleichterungen zugunsten der Arztseite entgegengetreten (siehe nun § 630h Abs. 2 S. 2 BGB).[44]
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Im Strafrecht besteht hier in Zukunft Anlass und Raum, die von der Rechtsprechung schon bisher nicht näher hergeleitete Akzessorietät zu den zivilrechtlichen Aufklärungsmaßstäben zu lockern und sie damit nicht länger (vermeintlich) eins zu eins auf das Strafrecht zu übertragen.[45] Wenngleich die für die Krankenbehandlung erforderliche Einwilligung im Zivil- und Strafrecht von denselben Kriterien und Voraussetzungen abhängig ist, müssen die unterschiedlichen Funktionen von Zivil- und Strafverfahren bei der Frage der Aufklärungspflichtverletzung Beachtung finden und zu praktisch spürbaren Konsequenzen führen. Auch der 4. Strafsenat des BGH hat angesichts der Übernahme der zivilistischen Rechtsprechungsgrundsätze durch eine Strafkammer bereits die Frage aufgeworfen, ob diese nicht „die Anforderungen an die vom Arzt geschuldete Aufklärung überspannt hat“ und damit in der Sache eine Distanzierung von zivilrechtlichen Anforderungen erwogen (siehe zur Entscheidung ferner Rn. 341 ff.).[46] Es ist tatsächlich in diesem Sinne geboten, sich auf das strafrechtliche Rechtsgut der §§ 223 ff. StGB zu besinnen, das nicht in einem Schutz der Selbstbestimmung als einem Selbstzweck bestehen kann; vielmehr muss die betreffende Aufklärungspflicht gerade auf das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit bezogen sein. Vorzugswürdig ist es deshalb, einen strafrechtlich beachtlichen Irrtum des Patienten nur aus erfolgreichen aktiven Täuschungen oder aus der Verletzung von Aufklärungspflichten herzuleiten, die den konkret ausgeführten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und die mit ihm verbundenen Risiken für den Patienten begreiflich machen.[47] Versäumt der Arzt hingegen Aufklärungspflichten, welche lediglich die Patientenautonomie optimieren sollen und damit etwa Behandlungsalternativen betreffen, macht dies die Einwilligung nicht unwirksam – diese Aufklärungsfehler sind allein, aber auch immerhin, durch das Zivilrecht durchzusetzen.
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Zu einer solchen Betrachtung besteht überdies deshalb Anlass, weil der Arzt im Strafrecht für jede leichte Fahrlässigkeit mit der drohenden Folge einer Vorstrafe einzustehen hat. Die mitunter vertretene Ansicht, nur grobe Verstöße gegen die Aufklärungspflicht rechtfertigten Strafe,[48] ist zwar rechtspolitisch erwägenswert, de lege lata aber leider unrichtig.[49] Versäumnisse bei der Eingriffsaufklärung führen vielmehr bislang zur Unzulässigkeit der Behandlung und damit „zur Haftung für ihre nachteiligen Folgen, auch wenn sie im Übrigen völlig fehlerfrei war“.[50] Gerade auch deshalb ist es notwendig, die strafrechtlich gebotene Prüfung der individuellen Fahrlässigkeit ernst zu nehmen und darüber hinaus die Einwilligung strafrechtsspezifisch zu konkretisieren. Überdies ist zu reflektieren, dass die bisherige Akzessorietät die strafrechtliche Verantwortlichkeit entgegen der Zielrichtung des Art. 103 Abs. 2 GG von einer insgesamt schwer vorhersehbaren zivilrechtlichen Billigkeitsjudikatur abhängig macht. Denn wenn heute „kein Jurist und kein Arzt ex ante eine verbindliche Vorhersage treffen kann, welche schicksalshaften Risiken die Gerichte ex post als aufklärungsbedürftig qualifizieren werden, falls es zu einem folgenschweren Zwischenfall kommt,“[51] dann ist der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung bzw. Tötung, soweit er mit Aufklärungsmängeln begründet wird, für den Arzt kaum hinreichend bestimmt. Die Strafgerichte unterliegen gerade bei der Anwendung generalklauselartiger Regelungen (siehe § 630e BGB) einer Präzisierungspflicht, die auf eine vorhersehbarkeitsfördernde Auslegung gerichtet ist.[52] Dem ist mit einer rechtsgutsbezogenen Präzisierung der relevanten Aufklärungspflichten in Zukunft Rechnung zu tragen.