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Wie schnell man in falschen Verdacht geraten kann, zeigt der Fall eines vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochenen Angeklagten, dem zur Last gelegt worden war, seine damalige Lebensgefährtin während einer Auseinandersetzung aus Eifersucht durch Schläge auf den Gesichtsbereich körperlich so schwer misshandelt zu haben, dass diese nach hinten mit dem Kopf auf ein Möbelstück oder auf den Boden fiel und wenige Tage später an den Folgen des dabei erlittenen beidseitigen subduralen Hämatoms verstarb. Den Ausführungen der 3 hinzugezogenen medizinischen Sachverständigen folgend war das LG davon ausgegangen, dass die Geschädigte die zum Tode führenden Verletzungen im Schädel-Hirn-Bereich bei einem Sturz mit Anprall auf das Hinterhaupt erlitt. Ein Tod durch fremde Hand war jedoch nicht nachweisbar, insbesondere nicht, dass ein Handeln des Angeklagten, etwa ein Faustschlag auf die Kopfregion der Geschädigten, zu diesem Sturz führte. Es erschien vielmehr aufgrund der Darstellung des Angeklagten nicht ausgeschlossen, dass die Lebensgefährtin während des Duschens auf dem nassen Untergrund der Duschbadewanne ausgerutscht war und die subdurale Blutung sich erst später bemerkbar gemacht hat, als die Lebensgefährtin über Unwohlsein klagte und zusammenbrach, woraufhin der Angeklagte den Rettungswagen und den Notarzt alarmierte[14].
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Fehlbeurteilungen aus Expertenmund lösen völlig unnötige Ermittlungen aus[15] oder leiten sie in die falsche Richtung – zuweilen mit verhängnisvollen Folgen. Im sog. Kälberstrick-Fall war der Beschuldigte Hetzel im Jahre 1955 aufgrund eines haltlosen Gutachtens wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. Spuren am Hals des „Opfers“, die durch Aufliegen des Leichnams auf einem Ast entstanden waren, hatte der Gerichtsmediziner bei Betrachten von Fotoaufnahmen irrtümlich als durch einen Kälberstrick hervorgerufene Drosselmarke klassifiziert[16]. 1969 wurde Hetzel im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Einander widersprechende gerichtsmedizinische Gutachten (beispielsweise zur Todesursache)[17], die mitunter zu heftigen Kontroversen im Gerichtssaal führen, verleiten Juristen leider allzu oft, sich in großer Selbstüberschätzung „kraft eigener Überlegungen“ auf die eine oder andere Seite zu schlagen, anstatt den einzig vernünftigen und sicheren Weg über den Zweifelssatz zu wählen.
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Zunehmend greift man zur Verbrechensaufklärung, insbesondere von Serienstraftaten auf Experten zurück, die sog. crime profiler, die in den USA seit Längerem zum Einsatz kommen[18]. Diese Kriminalpsychologen versuchen, anhand des Spurenbildes und sonstiger Tatumstände ein Profil des Täters zu erstellen. Derartige Psychogramme, die bereits in den siebziger Jahren vom FBI entwickelt worden sind, dürfen als Ermittlungsgrundlage in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden. Sie können Fehlvorstellungen in Bezug auf den Täter erzeugen. Die Täteranalyse vermag ohnehin die eigenständige unabhängige Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zu ersetzen[19].
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Crime profiling hat allerdings auch in der Bundesrepublik schon zu vereinzelten Ermittlungserfolgen geführt. Durch Analyse seines von Psychologen detailgenau zusammengefügten Charakterbildes konnte vor mehreren Jahren die Polizei eine wirksame Strategie entwickeln, den ausgebrochenen „Heidemörder“ Thomas Holst zu veranlassen, sich freiwillig den Strafverfolgungsbehörden zu stellen.
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Ist der Täter gefunden, stellt sich die Frage nach der subjektiven Tatseite. Welche Vorstellungen oder Affekte haben ihn beherrscht? War er uneingeschränkt schuldfähig? Ist er als potenziell gefährlich einzustufen? Hier sind die Psychowissenschaften gefragt. Längst nicht in jedem Fall sind sich die Psycho-Sachverständigen in der Beurteilung der Täterpersönlichkeit oder des Tatgeschehens einig.
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In Ausübung seiner Kontroll-, Entlastungs- und Schutzfunktion hat der Verteidiger, ausgehend von der Sachdarstellung des Mandanten, jeden auch nur ansatzweise zweifelhaft erscheinenden Befund akribisch zu überprüfen. Hierbei gehört das Studium einschlägiger Fachliteratur ebenso zum Handwerkszeug wie die Konsultation von Experten. Immer wieder sind in Schwurgerichtsverfahren schwerwiegende Versäumnisse, Fehleinschätzungen und Irrtümer von Sachverständigen oder Kriminaltechnikern aufzudecken. Aufklärungsdefiziten ist mit Ermittlungsanträgen oder eigenständigen Nachforschungen zu begegnen. Das Aufspüren von Entlastungsbeweisen kann in Kapitalstrafsachen von überragender Bedeutung sein und im Wirken der Verteidigung einen breiten Raum einnehmen[20]. Schließlich ist nach eingehender Beratung mit dem mord- oder totschlagsverdächtigen Beschuldigten verantwortlich zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er sich zur Sache äußert bzw. an Explorationen mitwirkt – wohl eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Inhalt, Umfang, Zeitpunkt und Form der Einlassung entscheiden womöglich über den Verfahrensausgang und somit über die Zukunft des Mandanten.
Anmerkungen
BGH Urt. v. 20.05.2003 – 5 StR 592/02; Zum Todesbegriff siehe Rn. 152 ff.
Zur Todesursächlichkeit einer Handlung siehe Rn. 176 ff.
Vgl. Blankenburg/Sessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1978, S. 262.
Vgl. etwa BGH Urt. v. 03.03.2000 – 2 StR 388/99, NStZ-RR 2000, 329 = StV 2000, 556.
BGH Urt. v. 08.04.1960 – 4 StR 2/60, BGHSt 14, 213 [217] = NJW 1960, 1261.
Lesenswert OLG Oldenburg Urt. v. 26.02.1996 – Ss 486/95, NStZ-RR 1996, 240.
BGH Urt. v. 24.01.2003 – 2 StR 215/02, BGHSt 48, 183 = NStZ 2003, 444 = StV 2003, 269.
Siehe im Einzelnen BGH Urt. v. 11.12.2008 – 4 StR 376/08, NStZ 2009, 404 = StV 2009, 509.
Siehe Näheres hierzu Rn. 501.
Siehe Näheres hierzu Rn. 277.