Einführung › § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese › VII. Verwaltungsrecht und Rechtsschutz
VII. Verwaltungsrecht und Rechtsschutz
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Art, Umfang und Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegenüber dem Verwaltungshandeln sind für das Verwaltungsrecht schlechthin konstituierend. Nicht nur hängen Stellung und Aktionsradius der Verwaltung gegenüber der Dritten Gewalt entscheidend von der Ausgestaltung des Rechtsschutzes ab. Ohne die Dialektik zwischen Verwaltungshandeln und gerichtlicher Verwaltungskontrolle wäre die Ausbildung des modernen Verwaltungsrechts gar nicht möglich gewesen.[314] Wesentliche Weichenstellungen bilden dabei die Gewährung von Rechtsschutz durch die allgemeinen Gerichte oder eine spezialisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit (dazu unter 1.) sowie die Entscheidung, ob die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung als objektive Rechtmäßigkeitskontrolle oder als Instrument zur Durchsetzung subjektiver öffentlicher Rechte der Bürger gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung konzipiert ist (dazu unter 2.). Vor diesem Hintergrund haben sich nicht nur unterschiedliche Formen der gerichtlichen Kontrolle und Kontrolldichte herausgebildet (dazu unter 3.), sondern auch Instrumente zu ihrer Substitution (dazu unter 4.). Ein wesentlicher Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Vollstreckung (dazu unter 5.). Schließlich sieht sich auch die nationale Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung Europäisierungserfordernissen ausgesetzt (dazu unter 6.).
1. Allgemeine Gerichtsbarkeit oder spezialisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit
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Von Beginn des modernen Verwaltungsrechts Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts an wird darüber gestritten, ob die Kontrolle der Verwaltung im Interesse der Bürger (Untertanen, administrés etc.) den allgemeinen – ordentlichen – Gerichten obliegen oder durch eine in der Verwaltung selbst angesiedelte spezialisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgen soll. Die Unterwerfung der Verwaltung unter die allgemeine und damit von der Exekutive unabhängige Gerichtsbarkeit gehörte zu den liberalen Forderungen der französischen Revolution von 1789 wie auch der Revolution von 1848. In Deutschland fand sie als eine der zentralen Forderungen der Märzrevolution Eingang in § 182 der Paulskirchenverfassung von 1849, der bestimmte: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte“.
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Grob typisierend lassen sich vor diesem Hintergrund drei Modelle verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in Europa unterscheiden, die freilich nirgends ohne Abstriche verwirklicht worden sind: Verwaltungsrechtsordnungen, in denen die allgemeine Gerichtsbarkeit auch für den Schutz des Bürgers gegenüber der Verwaltung zuständig ist (dazu unter a), Verwaltungsrechtsordnungen, in denen diese Aufgabe zwischen einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit und den ordentlichen Gerichten aufgeteilt ist (dazu unter b), und Verwaltungsrechtsordnungen, in denen die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Wesentlichen über alle verwaltungsrechtlichen Fragen entscheidet (dazu unter c). Dessen ungeachtet ist die konkrete Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes kontinuierlichen Veränderungen ausgesetzt (dazu unter d).
a) Allgemeine Gerichtsbarkeit
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In Großbritannien (und Irland) ist es nie zur Ausbildung einer verwaltungsinternen Administrativjustiz gekommen. Die judicial review lag hier stets bei den ordentlichen Gerichten.[315] Schon vor längerem sind beim High Court allerdings verwaltungsrechtliche Abteilungen eingerichtet worden, die in den meisten judicial review–Verfahren entscheiden. 2007 hat der Tribunals, Courts and Enforcement Act darüber hinaus die Bildung eines First-Tier Tribunals und eines Upper Tribunals angeordnet, die ebenfalls für die judicial review zuständig sind, so dass das britische Gerichtssystem nicht mehr ganz so monolithisch erscheint.[316] Neben diesen (materiell) verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfen gibt es nach Maßgabe spezialgesetzlicher Regelung ein right of appeal. Auch in Ungarn sind seit der Abschaffung der 1896 gegründeten Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahre 1949 die ordentlichen Gerichte, d.h. bei ihnen eingerichtete Verwaltungskollegien für die Gewährung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zuständig.[317]
b) Gemischtes Modell
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In Deutschland und Italien hat die historische Entwicklung zwar zur Ausbildung einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit geführt, doch sind die allgemeinen – ordentlichen – Gerichte nicht (vollständig) aus der Kontrolle der Verwaltung verdrängt worden.
aa) Deutschland
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In Deutschland kam es nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung von 1849 nach und nach zur Ausbildung einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit, die einerseits eine Trennung von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit beinhaltete,[318] andererseits jedoch die für das Common Law charakteristische Gleichstellung von Bürgern und Verwaltung vermied;[319] in der für die Abgrenzung von Verwaltungs- und Zivilrechtsweg nach § 40 VwGO herangezogenen sogenannten Subordinationstheorie lebt dies noch immer fort. Erstes unabhängiges Verwaltungsgericht in Deutschland war der am 5.10.1863 in Baden errichtete Verwaltungsgerichtshof in Karlsruhe; große Bedeutung sollte vor allem das am 3.7.1875 errichtete Preußische Oberverwaltungsgericht erlangen,[320] an dessen Rechtsprechung ab 1953 auch das Bundesverwaltungsgericht anknüpfen konnte.
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Seit 1949 sieht das Grundgesetz neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Arbeitsgerichtsbarkeit drei verwaltungsrechtliche Gerichtszüge vor: die die Verwaltungsgerichte, die Verwaltungsgerichtshöfe/Oberverwaltungsgerichte und das Bundesverwaltungsgericht umfassende allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Sozialgerichtsbarkeit und die Finanzgerichtsbarkeit (Art. 95 Abs. 1 GG).
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Zu einer klaren Zuordnung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten hat dies jedoch nicht geführt. Seit langem waren etwa die ordentlichen Gerichte für bestimmte Streitigkeiten im Bauplanungsrecht zuständig (§§ 217ff. BauGB), für das Vergaberecht (§§ 97ff. GWB) und neuerdings auch für den überwiegenden Teil des Regulierungsrechts. Die disparate Zuordnung der öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ist darüber hinaus auch im Grundgesetz angelegt, das Streitigkeiten über die Höhe einer Enteignungsentschädigung (Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG) und über Amtshaftungs- und Regressansprüche (Art. 34 Satz 3 GG) den ordentlichen Gerichten zuweist.
bb) Italien
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Einen nicht weniger verschlungenen Mittelweg bei der Aufteilung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit hat auch Italien beschritten. Hier wurde die Rechtsprechung nach der Einigung 1860 zunächst allein den ordentlichen Gerichten übertragen. Da sich diese jedoch nicht auf eine effektive Durchsetzung subjektiver öffentlicher