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Zentrales Problem für die langfristige Akzeptanz des Berufsbeamtentums ist, dass die Zuordnung der Beschäftigten zum (häufig als privilegiert empfundenen) Beamtenkorps oder zur Gruppe der Beschäftigten ohne Sonderstatus in den meisten europäischen Verwaltungsrechtsordnungen nicht immer rational erfolgt,[163] mit der Verbeamtung häufig sachfremde Motive verfolgt werden (Versorgung von Wählergruppen, Einsparung von Sozialversicherungsabgaben) und vor allem bei niedrigeren Tätigkeiten vielfach auf Angestellte zurückgegriffen wird.[164] Das erhöht nicht nur den Druck auf eine Angleichung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, sondern trägt auch zu einer nachhaltigen Delegitimierung des Beamtenstatus bei. In einigen Verwaltungsrechtsordnungen hat man daher mittlerweile vollständig auf ein mit einem besonderen Status versehenes Beamtentum verzichtet.[165]
4. Aufgaben der Verwaltung
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Die Aufgaben der Verwaltung sind vielgestaltig und einem kontinuierlichen Wandel unterworfen, was eine Erfassung praktisch unmöglich macht oder doch erheblich erschwert.[166] Alle Versuche, eine normative Staatsaufgabenlehre zu begründen, haben sich zudem als unergiebig erwiesen. Daher begnügt man sich meist pragmatisch mit einer negativen Definition: Aufgabe der Verwaltung ist alles, was nicht Gesetzgebung, Regierung oder Rechtsprechung unterfällt („Subtraktionsmethode“).[167]
a) Typologie
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Freilich lassen sich die Verwaltungsaufgaben durchaus typisieren. So wird in Deutschland u.a. kategorial zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung unterschieden, in Frankreich zwischen puissance publique und service public.[168]
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Seit den Zeiten des liberalen Rechtsstaats bildet etwa die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (police administratif) in allen Verwaltungsrechtsordnungen das Rückgrat der Verwaltungstätigkeit. Da die Gewährleistung der Sicherheit nach innen fundamentaler Staatszweck ist, ist es Sache der Verwaltung, sie im Einzelfall sicherzustellen.[169]
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Darüber hinaus hat seit Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere die soziale Frage zur Herausbildung des Wohlfahrts- oder Sozialstaats geführt und den Kanon der Verwaltungsaufgaben um leistungs- und sozialstaatliche Angelegenheiten ergänzt.[170] In Deutschland kann die kaiserliche Botschaft von 1881, mit der die öffentliche Sozialversicherung auf den Weg gebracht wurde, als Beginn dieser bis heute nicht abgeschlossenen Entwicklung gelten. Ihre dogmatische Durchdringung blieb allerdings unvollständig, wovon nicht zuletzt der in den 1930er-Jahren von Ernst Forsthoff geprägte, diffus gebliebene Begriff der Daseinsvorsorge[171] zeugt. Hingegen gelang es Léon Duguit in Frankreich schon vor dem Ersten Weltkrieg, die Idee des sozialen Leistungsstaats in der Konzeption des service public[172] zu bündeln, die später in viele Verwaltungsrechtsordnungen mehr oder weniger modifiziert übernommen werden sollte. Auch dem Unionsrecht ist sie geläufig (Art. 14 und Art. 106 Abs. 2 AEUV).
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Planungs-, Vorsorge-, Infrastruktur- und Verteilungsaufgaben zu den überkommenen Verwaltungsaufgaben hinzugetreten.[173] Der Umweltschutz hat an Bedeutung gewonnen,[174] und seit 1989/1990 hat die Regulierung besonderes Gewicht erlangt.
b) Ausdehnung der Verwaltungsaufgaben und des Verwaltungsrechts
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Seit der Entstehung des modernen Rechtsstaats haben alle größeren gesellschaftlichen Entwicklungen den Bestand an Verwaltungsaufgaben erweitert und die Anwendungsbereiche des Verwaltungsrechts vergrößert. Die stetige Expansion der Verwaltungstätigkeit und des Verwaltungsapparats ist nicht nur ein „Lebensprinzip“ der Verwaltung,[175] die mit dem sogenannten Parkinson’schen Gesetz karikiert wird. Sie entspricht auch einem empirischen Befund.
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So hat der im 20. Jahrhundert ausgebaute Wohlfahrts- und Sozialstaat nicht nur zu einer erheblichen Ausweitung der Verwaltungstätigkeit geführt, sondern auch ein neues Rechtsgebiet hervorgebracht, das Sozialrecht. Dies zeigt, dass der Sozialstaat in erster Linie „Verwaltungsstaat“ ist.[176] Die Erweiterung der Verwaltungstätigkeit um Planungs-, Vorsorge-, Infrastruktur- und Verteilungsaufgaben hat – je nach Verwaltungsrechtsordnung – zur Herausbildung neuer Referenzgebiete geführt: etwa des Planungs-, des Umwelt- oder des Vergaberechts. Und als sich um die Zeitenwende der Jahre 1989/1990 immer deutlicher zeigte, dass dieser Verwaltungsstaat an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit stieß und allenthalben vom überforderten Staat, der Notwendigkeit eines „schlanken“ Staates und seiner „Neuerfindung“[177] die Rede war, sich der Staat – teils aus eigenem Antrieb, teils durch Vorgaben des Unionsrechts veranlasst – auf Feldern wie der Energieversorgung, der Telekommunikation, der Bahn und der Post[178] aus der Erfüllungsverantwortung zurückzog und auf eine bloße Gewährleistungsverantwortung beschränkte, hatte auch dies keine Reduzierung von Verwaltungsaufgaben zur Folge. Es markiert vielmehr die Geburtsstunde einer neuen Verwaltungsaufgabe, der Regulierung künstlich geschaffener Märkte.[179] Daraus ist das Regulierungsrecht entstanden.
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Einen nennenswerten Rückbau von Verwaltungszuständigkeiten hat es – von der teilweisen Beseitigung öffentlicher Monopole abgesehen – somit praktisch nie gegeben. Im nationalen Kontext blieben Liberalisierungs- und Deregulierungsansätze bescheiden und beschränkten sich auf untergeordnete Maßnahmen wie die begrenzte Liberalisierung des deutschen Handwerksrechts.[180] Auch die mit der Herstellung des Binnenmarkts verbundenen Erwartungen an Liberalisierung und Deregulierung haben sich nicht erfüllt; die Regelungsdichte des Unionsrechts steht hinter der der Mitgliedstaaten keinesfalls zurück. In jüngster Zeit zeichnet sich zudem eine Wiederentdeckung der Erfüllungsverantwortung ab – im Energiesektor, im Schienenverkehr und (im Gefolge der Finanzmarktkrise der Jahre 2008/2009 und der seither andauernden Staatsschuldenkrise) nicht zuletzt auch auf den Finanzmärkten.[181] Es spricht wenig dafür, dass sich dies auf absehbare Zeit ändern könnte. So erfordert etwa die derzeit in Gang befindliche Umstellung auf eine elektronische Verwaltung die Schaffung eines übergreifenden Informationsverwaltungsrechts, das eine weitere Expansion der Verwaltungstätigkeit nach sich ziehen dürfte.
5. Elektronische Verwaltung
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Der kontinuierliche Umstieg der Verwaltung auf eine papierfreie, elektronische Erledigung ihrer Aufgaben – das sogenannte E-Government – ist nicht nur eine technische Quisquilie, die in einzelnen Gesetzen Niederschlag findet.[182] Er zwingt – wie die Richtlinie 2006/123/EG zeigt – zur Entwicklung von Front- Office- und One-Stop-Agency-Konzepten, zu einer Standardisierung von Arbeitsabläufen und zum Ausbau von Informationsverbünden.[183] Gleichzeitig tendiert eine elektronische Verwaltung dazu, Zuständigkeitsregelungen zu überspielen. Vor diesem Hintergrund ist der Umstieg auf eine elektronische Verwaltung nicht nur eine technische Revolution; sie stellt das Verwaltungsrecht auch vor die Herausforderung, seine rechtsstaatlichen und demokratischen Funktionen unter völlig veränderten Gegebenheiten erfüllen zu müssen.[184]
Einführung › § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese › V. Handlungsformen und Verfahren
V. Handlungsformen und Verfahren
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