Die „französische Konzeption“ der Gewaltenteilung[129] rechtfertigt die Existenz eines Dualismus der Gerichtsbarkeiten. Er führt zum Nebeneinander zweier Gerichtszweige, auf der einen Seite die ordentliche Gerichtsbarkeit mit der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof) an der Spitze, auf der anderen Seite die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Conseil d’État an ihrer Spitze. Etwa auftretende Zuständigkeitskonflikte werden vom Tribunal des conflits gelöst.[130] Hauptaufgabe dieser recht eigenartigen, je zur Hälfte mit Mitgliedern der letztinstanzlichen Gerichte der beiden Gerichtszweige besetzten Einrichtung ist es, die Zuständigkeit zu klären, ohne eine Aussage in der Sache selbst zu treffen. Neben den Dualismus der Gerichtsbarkeiten ist ein rechtlicher Dualismus getreten, der impliziert, dass die Gerichte der beiden Gerichtszweige unterschiedliche Rechtsnormen anwenden. Dennoch und ganz abgesehen davon, dass beide Dualismen nicht vollkommen deckungsgleich sind, wodurch die Vorstellung, dass „die Zuständigkeit aus dem anzuwendenden Recht folgt“ in Frage gestellt wird, verlangt ein verfassungskonformes Verständnis des Dualismus der Gerichtsbarkeiten, der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmte Fragen kraft Natur der Sache vorzubehalten.
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Die Vorstellung, dass die gerichtliche Zuständigkeit und das anzuwendende Recht miteinander verknüpft sind, besteht seit dem Fall Blanco, wo der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fiel, weil der Code civil in Fragen der Staatshaftung keine Anwendung findet. Ein Zusammenhang existiert tatsächlich – wie sich auch in der Gesetzgebung zeigt, die Zuständigkeitsregeln ändert, um das anwendbare Recht festzulegen –, er hat aber keinen absoluten Charakter. Wie es den Verwaltungsgerichten nicht verwehrt ist, ausdrücklich oder implizit Regeln aus dem Code civil anzuwenden, kann es auch im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, für die die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig sind, zur Anwendung von Verwaltungsrecht kommen.[131] Ferner wird die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel durch zwei Ausnahmen eingeschränkt: Die erste folgt aus dem Grundsatz der „guten Rechtspflege“, die zweite bilden die der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehaltenen Materien wie insbesondere der Personenstand, das Privateigentum und die individuelle Freiheit. So bestimmt Art. 66 CF, dass „[d]ie ordentlichen Gerichte … als Hüter der Freiheit der Person die Einhaltung dieses Grundsatzes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen [gewährleisten]“. Hieraus folgt einerseits, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit in verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten in den Fällen einer emprise irrégulière (rechtswidrige Entziehung von Grundeigentum) und einer voie de fait (Beeinträchtigung des Eigentums oder eines Freiheitsrechts, „die ganz offensichtlich nicht durch eine Befugnis der Verwaltung gedeckt ist“) zuständig ist, sowie andererseits, dass sie inzident einen Verwaltungsakt auslegen und auf seine Rechtmäßigkeit hin prüfen kann. Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte kann dabei mehr oder weniger weit sein. Insbesondere ist zwischen zivil- und strafrechtlichen Streitigkeiten zu unterscheiden, weil das Prinzip der umfassenden Zuständigkeit bei den Strafgerichten heute weit gehandhabt wird.[132]
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Ausgeweitet wird die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit darüber hinaus durch ein neues Phänomen soziologischer Art, nämlich die Kriminalisierung der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung. Der Streit um verunreinigtes Blut ist hierfür ein gutes Beispiel.[133] Durch die Unterscheidung zwischen persönlichem Fehlverhalten und Fehlverhalten im Amt und die Annahme von Anspruchskonkurrenz (régimes des cumuls), auf deren Grundlage sowohl faute (schuldhaftes Handeln) als auch responsabilité (bloße Verantwortlichkeit) zu einer Haftung führen, kann ein ordentliches Gericht angerufen werden, um über die persönliche Haftung eines Verwaltungsbediensteten zu entscheiden und damit die Grenze zum Bereich des öffentlichen Handelns zu überschreiten. Die Kriminalisierung der Verantwortlichkeit öffentlicher Entscheidungsträger soll die klassische politische Kontrolle aber nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen.
b) Die Diversifizierung der Verwaltungskontrolle
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Neben die traditionelle Kontrolle, die aus der Funktionsweise der Verwaltung selbst folgt, tritt die Kontrolle durch spezialisierte unabhängige Einrichtungen.
aa) Aus der Funktionsweise der Verwaltung resultierende Kontrolle
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Die Ausübung von Weisungsbefugnis in der Verwaltungshierarchie, die Kontrolle der Verwendung öffentlicher Mittel oder auch die Kontrolle der zentralen Dienststellen der Ministerien durch die Generalinspektionen begründen zwar eine Art Rechtsschutz, auch wenn sie als für das Verwaltungshandeln lähmend, ja sogar wirkungslos und unangemessen anzusehen sind. Sie liegen aber außerhalb des Einflussbereichs der administrés, auf die sie zudem nicht unmittelbar ausgerichtet sind. Anders ist dies beim recours administratif (verwaltungsinterner Widerspruch).
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Im Falle einer rechtlichen Streitigkeit kann (oder muss) der administré einen recours administratif an die Verwaltung richten. Dieser recours, der kein Antrag ist, kann gracieux oder hiérarchique sein, je nachdem, ob er an die Ausgangsbehörde oder die übergeordnete Behörde gerichtet ist. In vielen rechtlichen Streitigkeiten, denen eine Verwaltungsentscheidung zugrunde liegt, darunter auch der recours pour excès de pouvoir, ist der administré nicht verpflichtet, sich an die Verwaltung zu wenden, bevor er Klage erheben kann; er hat aber stets die Möglichkeit, dies zu tun. Will er sich die Möglichkeit, später Klage zu erheben, zunächst noch offenhalten, muss er den recours administratif innerhalb der Klagefrist einlegen. Das Hintereinander von verwaltungsinternem und gerichtlichem Rechtsbehelf[134] ist für den administré interessant, weil der recours administratif seiner Natur nach Aussicht auf einen Vergleich bietet. In haftungsrechtlichen Streitigkeiten ist die Einlegung eines verwaltungsinternen Rechtsbehelfs vor Klageerhebung obligatorisch, die Rede ist dann von einem recours administratif préalable. Das ergibt sich aus der Regel der décision préalable, nach der eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen eine (explizite oder implizite) Verwaltungsentscheidung gerichtet sein muss. Da der recours administratif sich dadurch auszeichnet, dass der administré zur Begründung rechtliche und tatsächliche Gründe vorbringen kann und die Verwaltungsbehörde auf der Grundlage von Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden kann, und zudem frei von jeglichem Formalismus ist, stellt er eine wirksame Möglichkeit dar, den administré und die Verwaltung zusammenzubringen und den Rechtsstreit beizulegen.
bb) Die Kontrolle durch unabhängige Behörden
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Die Entwicklung neuer Rechtsformen wie der agences (Agenturen) oder der autorités administratives (oder publiques) indépendantes (unabhängige Verwaltungsbehörden) ist Teil des fortschreitenden Phänomens einer „Aufgliederung“ der Verwaltung.[135] Die letztgenannten Behörden sind Teil der Verwaltung, stehen aber am Rand der klassischen Verwaltungsorganisation. Dies sowie die Tatsache, dass sie schrittweise hierarchischer Kontrolle und staatlicher Aufsicht entzogen werden, führt zur Entstehung neuer Formen des Rechtsschutzes.
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Die Schaffung unabhängiger Verwaltungsbehörden geht auf das Bestreben zurück, die Kontrolle bestimmter Tätigkeitsbereiche, die technisch und/oder politisch sensibel sind, Einrichtungen anzuvertrauen, die außerhalb der Verwaltungshierarchie stehen und mit Blick auf Funktionsweise und Befugnisse große Autonomie genießen. Erstmals 1978 bei Schaffung der Commission nationale de l'informatique et des libertés[136] angewendet, ist das Modell seither vielfach verwirklicht worden, entweder um die Förderung demokratischer Werte zu gewährleisten (viele