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Eine weitere, in der Jurisprudenz besonders stark verbreitete Verwendungsform gebraucht „normativ“ als Synonym von „durch Festsetzung“ oder „durch Entscheidung“. Dieser Sprachgebrauch wird benutzt, wenn man sagt, ein Begriff bzw. ein Begriffsinhalt werde „normativ“ festgelegt, also definiert. Man kann außerdem davon sprechen, eine Problemlage „normativ“ zu lösen, indem man sich „wertend“ für den einen oder anderen Lösungsweg entscheidet.
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Damit eng verwandt ist die Rede von der Notwendigkeit einer „normativen“ Bedeutungsfestsetzung. So wird etwa häufig davon gesprochen, das zu weite Kausalitätskonzept der conditio-sine-qua-non-Formel (im Folgenden csqn-Formel) „normativ“ einschränken zu müssen (siehe oben Rn. 60). Dahinter steht die Vorstellung, die Kategorie der Kausalität (i.S.d. csqn-Formel) sei quasi von Natur aus vorgegeben (manche Autoren sprechen in dem Zusammenhang gern von „Naturalismus“, dazu oben Rn. 46 ff.), während die einschränkende Formel von der „objektiven Zurechnung“ auf einer Wertung beruhe und damit „normativ“ zu verstehen sei.[173]
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Diese Vorstellung ist allerdings irreführend. Zwar trifft zu, dass die Entscheidung für eine bestimmte Fassung der Lehre von der objektiven Zurechnung, ja schon die Entscheidung, die als zu weit empfundene csqn- Formel überhaupt einschränken zu wollen, Entscheidungen impliziert, und in diesem Sinne „normativ“ ist. Aber auch die Festlegung auf die Verwendung der csqn-Formel als Definition oder Kriterium von Kausalität beruht auf einer Entscheidung und ist insofern normativ.[174] Begriffliche Festlegungen (Definitionen) sind stets normativ.[175] Die Tatsache, dass eine bestimmte (fachjuristische) Begrifflichkeit meist bereits in der Alltagssprache oder in einer bestimmten Fachsprache verwendet wurde, bevor sie in den juristischen Sprachgebrauch übernommen wird, ändert daran nichts.
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Denkbar ist es aber auch, „normativ“ im Sinne von „durch Normen“ oder „unter Verwendung von Normen“ zu gebrauchen. So ließe sich etwa sagen, dass ein Interessenkonflikt normativ (also etwa durch Gesetz oder Richterspruch) geregelt werden solle, und nicht durch Gewalt oder Machtausübung. Diese siebte Verwendungsweise des Ausdrucks „normativ“ ist mit der sechsten Verwendungsform eng verwandt; nicht selten wird es sich dabei sogar um eine Spezialform handeln.
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In einer achten Verwendungsweise meint „normativ“, dass zum Verständnis oder zur Verwendung des in Frage stehenden sprachlichen Ausdrucks eine Wertung, insbesondere eine Eigenwertung, erforderlich ist. Verwendet man das Konzept in dieser Weise, so bezieht es sich vor allem auf Begriffe. Ein Hauptanwendungsfall im Recht sind die „wertausfüllungsbedürftigen Merkmale.“[176] So ist etwa der Begriff „rücksichtslos“ in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB ein normativer Begriff, da seine Verwendung eine Eigenwertung des Rechtsanwenders voraussetzt. Die Dogmatik kennt ferner „gesamttatbewertende Merkmale“ wie die Verwerflichkeit bei § 240 Abs. 2 StGB.[177] Derartige Eigenwertungen stehen in einem Spannungsverhältnis zur Objektivität und Transparenz der Rechtsanwendung; sie sind jedoch, wie die moderne Methodenlehre gezeigt hat, unvermeidbar (→ AT Bd. 1: Hans Kudlich, Die Auslegung von Strafgesetzen, § 3).
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Damit verwandt ist die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen. Deskriptive Tatbestandsmerkmale sind Merkmale, die „sich auf natürliche Eigenschaften von Personen und Objekten [beziehen], deren Vorhandensein empirisch oder durch Berechnung festgestellt werden kann“, während normative Tatbestandsmerkmale sich dadurch auszeichnen, dass sie sich „auf Eigenschaften [beziehen], die auf einer sozialen bzw. rechtlichen Regel beruhen“.[178] Ein Beispiel für ein normatives Tatbestandsmerkmal in diesem Sinne ist etwa die Verletzung „fremden Jagdrechts“ (§ 292 StGB).
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Die skizzierten Verwendungsweisen des Ausdrucks „normativ“ erfassen das Begriffsfeld nicht erschöpfend. Es ist also keineswegs auszuschließen, dass das Konzept noch in weiteren, hier nicht behandelten Formen gebraucht wird. Aus all dem wird deutlich, wie wichtig es ist, im Zusammenhang mit Forderungen nach mehr „Normativität“ methodologisch diszipliniert vorzugehen und genau anzugeben, was man meint, wenn man das Zauberwort „normativ“ verwendet.
II. Normativismus
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Im Zusammenhang mit der Rechtswissenschaft und ihrer Methodologie findet sich nicht selten auch der Ausdruck „Normativismus“. Dieses Konzept wird jedoch ebenfalls in unterschiedlicher Weise verwendet. Böckenförde hat „Normativismus“ wie folgt umschrieben: „Bezeichnung einer Richtung des Rechtsdenkens und der Rechtswissenschaft, die das Recht allein als einen gegenüber dem Tatsächlichen abgeschlossenen Komplex geltender Rechtsnormen (im Sinn erlassener Gesetzesregeln) begreift und die Aufgabe der Rechtswissenschaft nur darin sieht, diesen Normenkomplex unter Anwendung der Mittel der Logik zu analysieren, in seinem Aussagegehalt festzustellen und durch Rückführung auf allgemeinere rechtslogische Begriffe und Denkfiguren zu systematisieren“.[179]
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Einem so verstandenen „Normativismus“ entgegengesetzt ist vor allem das „konkrete Ordnungsdenken“ wie es z.Z. des Nationalsozialismus etwa von Carl Schmitt und Karl Larenz vertreten wurde. Dahinter steht die Vorstellung, was als „Recht“ zu gelten habe, ließe sich lebensweltlichen Traditionen und Einrichtungen, etwa der „Familie“, entnehmen. Damit wird der Unterschied zwischen sozialer Normierung und Recht eingeebnet und das Recht von der Interpretation der „konkreten Ordnung“ abhängig gemacht.[180]
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In der heutigen Strafrechtswissenschaft wird der Begriff „Normativismus“ meist in einem anderen Sinne[181] verwendet. Er soll ausdrücken, dass die Begriffsbildung der Strafrechtsdogmatik nicht an irgendwelche Vorgegebenheiten, etwa „sachlogische Strukturen“ (vgl. oben Rn. 56) gebunden sei, sondern im Einklang mit der modernen Definitionslehre grundsätzlich[182] frei gestaltet werden könne.[183] Der Gegenbegriff zum „Normativismus“ in diesem Sinne ist ein „ontologisches Strafrechtsverständnis“, oft einfach als „Ontologismus“ bezeichnet, wonach dem Strafrecht bestimmte Inhalte oder Strukturen zwingend vorgegeben sind. Diese Auffassung besitzt heute kaum noch Anhänger;[184] Straftatsystem und strafrechtliche Begriffe werden teleologisch bestimmt.
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Mit der Entscheidung für eine teleologische, also zweck- oder zielorientierte Perspektive ist die Frage nach den zugrunde zu legenden Zwecken und Zielen des Strafrechts freilich noch nicht beantwortet. Insofern hängen Verbrechensbegriff und Straftheorie in der Tat zusammen.[185] Die Straftheorie ihrerseits verweist auf Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. Schon wegen dieser Grundlagenorientierung spricht wenig dafür, dass die Auseinandersetzungen um das Straftatsystem und die juristische Begriffsbildung bald zu einem Ende kommen könnten.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
v. Beling, Ernst Ludwig |