VII. Gegenwart
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Mittlerweile sind die großen methodologischen Debatten um Naturalismus, Finalismus, Neo-Klassizismus und zweckrationalen Straftataufbau abgeklungen. Die Vorstellung, es gebe eine bestimmte vorrechtliche Struktur der „Handlung“, an die das strafrechtliche Handlungsverständnis gebunden sei, wird kaum mehr ausdrücklich vertreten. Allerdings hat sich die Verortung des Vorsatzes im (subjektiven) Tatbestand durchgesetzt.[120] Grund hierfür ist die praktische Überlegenheit dieses Aufbaus, etwa bei der Behandlung von Irrtümern (eingehend → AT Bd. 2: Ulfrid Neumann, §§ 47, 48). Das heute herrschende Standardsystem kann als eine Symbiose von klassischen, neoklassischen und finalen Elementen bezeichnet werden, was es freilich, und dies ist von Kritikern immer wieder bemängelt worden, schwierig macht, den herrschenden Aufbau auf eine einheitliche „Gesamttheorie“ der Straftat zurückzuführen.[121]
VIII. Zusammenfassende Bewertung
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Der historischen Abfolge dieser Systementwürfe wird gelegentlich eine innere Logik unterlegt, die nicht zuletzt dem Zweck dient, dass (jeweils) letzte System in besonderer Weise auszuzeichnen. Dabei wird die erhebliche historische Kontingenz der System- und Aufbauentwürfe seit Feuerbach unterschätzt. Außerdem wird übersehen, dass es nicht nur die oben genannten Strafrechtssysteme bzw. Systementwürfe gab. Vielmehr sind schon seit dem frühen 18. Jahrhundert eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Gliederungs- und Systemvorschlägen für die strafrechtliche Prüfung entwickelt worden, nicht selten schlicht in Form von Lehrbucheinteilungen. Manche Aufbauvorschläge wurden mehrfach vorgebracht, und ihre Akzeptanz scheint häufig mehr vom Zufall abhängig gewesen zu sein als von ihrer logischen oder systematischen Überlegenheit.[122]
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In der Auseinandersetzung mit der historischen Genese des heutigen Straftatbegriffs spielen argumentative Klischés eine bemerkenswerte Rolle. So wird der „Naturalismus“ von Liszts, Belings und Radbruchs als mehr oder weniger unreflektierte Orientierung an einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung verstanden, und sodann das vermeintlich „bloß naturwissenschaftliche“ Begriffsverständnis von einer vermeintlich höheren rechtswissenschaftlichen Warte aus abgelehnt.[123] Damit dürften allerdings, wie oben Rn. 46 ff. zu zeigen versucht wurde, die Einflüsse, die gerade von Liszt zu seinem Systematisierungsentwurf bewogen haben, kaum angemessen beschrieben sein. Von Liszt war wie nur wenige Juristen seiner Zeit vom neuen naturwissenschaftlichen Weltbild, welches man als „Naturalismus“ bezeichnen mag, geprägt; dies bedeutet jedoch nicht, dass er versucht hätte, bei den Naturwissenschaften unreflektiert terminologische Anleihen zu machen. Vielleicht wäre es klarer, bei von Liszt statt von einem „Naturalismus“ von einem Bekenntnis zur „wissenschaftlichen Weltanschauung“ zu sprechen.[124]
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In der Auseinandersetzung um „Naturalismus“ und „Normativismus“ verdient ein Vorschlag von Karl Engisch Interesse, der bereits in den späten 40er Jahren versucht hat, die Eigenart der juristischen Begriffsbildung zwischen der Skylla eines unreflektierten „Naturalismus“ und der Charybdis eines reinen „Normativismus“ präziser herauszuarbeiten.[125] Um Fälle und ihre Besonderheiten unter Rechtsnormen subsumieren zu können, müssen die in den Gesetzen verwendeten Begriffe ausgelegt, also analysiert und gelegentlich präzisiert werden. Engisch weist darauf hin, dass der Jurist „die Begriffe immer nur bis zu einem gewissen Grade [zerlegt], er bleibt bei seinen Subdefinitionen bei Begriffen stehen, die in der Praxis der Gedankenübermittlung als gültige Münze umlaufen, die für das alltägliche Verständnis genügend deutlich sind“.[126] Die Begriffsbildung der Juristen ist also an das lebensweltliche Verständnis der Begriffe, an den allgemeinen Sprachgebrauch, gebunden.
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Dagegen ist es eine Eigenart des „Normativismus“ (Engisch verweist in diesem Zusammenhang auf Hans Kelsen und dessen Konzeption von „juristischer Person“), „ein von allen natürlichen Vorstellungen abgesondertes spezifisch juristisches Weltbild zu entwickeln“[127] und, so wird man ergänzen dürfen, damit auch eine vom natürlichen Sprachgebrauch vollkommen losgelöste Terminologie. Den „Naturalismus“ kennzeichnet Engisch dadurch, dass dieser versucht habe, „die rechtswissenschaftlichen Begriffe durch spezifisch naturwissenschaftliche zu erläutern und damit das Weltbild des Juristen in das des Naturforschers ausmünden zu lassen.“[128] Engisch spricht hier zu Recht von einer Orientierung an den Naturwissenschaften, nicht aber von unkritscher Übernahme ihrer Begrifflichkeit. Das Recht, so wird man Engischs Position zusammenfassen dürfen, ist bei seiner Begriffsbildung eigenständig, orientiert sich aber eng am lebensweltlichen Sprachgebrauch.
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Es liegt auf der Hand, dass der Übergang von einer (für die juristische Praxis typischen) Orientierung am lebensweltlichen Begriffsverständnis zum Normativismus einerseits und zum Naturalismus andererseits gleitend ist. In jeder begrifflichen Präzisierung steckt ein Element des Normativismus, und die naturwissenschaftliche Begriffsbildung[129] (die übrigens in ihren Einzeldisziplinen durchaus unterschiedlich verlaufen kann) setzt offenkundig beim „natürlichen“ Sprachgebrauch an. Aber auch die Natur- und empirischen Sozialwissenschaften präzisieren ihre Begriffe nach ihren fachspezifischen Bedürfnissen und schaffen durch Definitionen neue Begrifflichkeiten, die ihren jeweiligen Erkenntniszielen dienen.
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Will man die Entwicklung der Straftatlehre seit von Liszt und Beling zusammenfassend deuten, so lassen sich zwei Faktoren angeben: zum einen eine immer weiter zunehmende Differenzierung des strafrechtsdogmatischen Analysesystems,[130] die die Strafrechtsgelehrten vor die (alles in allem bemerkenswert gut bewältigte) Aufgabe stellte, die Systematik praxistauglich, aber auch widerspruchsfrei zu gestalten, und zum anderen die zunehmende Einsicht, dass uns unsere Begriffe und ihre systematische Anordnung nicht ein für allemal vorgegeben sind, sondern auf menschlichen Setzungen beruhen. Dies bedeutet, dass die Begriffe der Strafrechtsdogmatik nach (kriminal-)politischen Zwecken gestaltet werden können[131] und im grundrechtsgebundenen Staat der Gegenwart[132] auch gestaltet werden müssen.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld
F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld
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Oben (Rn. 3) wurde das „Standardmodell“ des Verbrechensaufbaus als Abfolge der Konzepte Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld angegeben. Bereits vor über 50 Jahren bezeichnete Welzel diese Gliederung des Verbrechens als „den wichtigsten dogmatischen Fortschritt der letzten zwei bis drei Menschenalter“.[133] Die beiden ersten Stufen lassen sich unter der Bezeichnung „Unrecht“ zusammenfassen.[134] Die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld wird in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft heute fast allgemein anerkannt,[135] auch wenn die Abgrenzung im Detail lange Zeit höchst umstritten war.[136] Sie ist darüber hinaus eines der kennzeichnenden Merkmale der neuen internationalen Strafrechtswissenschaft (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Die deutsche Strafrechtswissenschaft der Gegenwart, § 18 Rn. 112 f.; 119 f.). Jescheck und Weigend nennen sie geradezu den „Angelpunkt