a) Der Kontext der Begriffsverwendung an anderen Stellen
und der Gesetzesstruktur
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Die systematische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes bzw. der Rechtsordnung als Ganzes. Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber insgesamt um eine möglichst widerspruchsfreie Regelung bemüht ist. Dass ihm dies nicht immer gelingt (und dass dies einer der Punkte ist, derentwegen die systematische Auslegung an ihre Grenzen stößt), ist unter Juristen hinlänglich bekannt. Ein weiteres Problem der systematischen Auslegung besteht darin, dass die in Bezug genommene Stelle ihrerseits erst wieder „ausgelegt“ werden muss, bevor etwas darüber ausgesagt werden kann, wie die eigentlich interessierende Norm im Sinne einer widerspruchsfreien Regelung zu lesen wäre. Diese Schwierigkeit wird aber dadurch erheblich entschärft, dass die systematische Auslegung v.a. herangezogen wird, wenn die in Bezug genommene Stelle (zumindest hinsichtlich der konkret interessierenden Aussage) in ihrer Bedeutung im Wesentlichen unstreitig, zumindest erheblich klarer oder aber wenigstens zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht umstritten ist. Schwerer wiegt, dass in manchen Fällen nicht ohne weiteres klar ist, ob eine in Bezug genommene Regelung eher Modell- oder Ausnahmecharakter hat, d.h. ob ihr dementsprechend hinsichtlich der auszulegenden Norm eher bedeutungserweiternde (gleichsam analogische) oder bedeutungsreduzierende (gleichsam gegenschließende) Wirkung zukommen soll. Diese Schwierigkeit mag ein Grund dafür sein, dass sich in der Rechtspraxis die systematische Auslegung zwar – als normtextnahes Auslegungsargument ganz zu Recht – einer gewissen Beliebtheit erfreut, dass der Rückgriff auf sie aber in der Rechtsprechung rückläufig zu sein scheint.[34] Dass man den vergleichsweise aufwendigen argumentativen Schritt dort eher scheut, wo andere Möglichkeiten – hier konkret: die genetische Auslegung (vgl. dazu unten Rn. 30 ff.) sowie insbesondere auch Selbst-Referenzen – zur Verfügung stehen, erscheint zumindest nicht unplausibel.
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Solche Selbst-Referenzen könnte man – nach einem Verständnis einer auch horizontalen Gesetzesbindung und damit einer Beobachtung der Rechtspraxis als „Systematik zweiter Ordnung“[35] – ebenfalls als Aspekt der systematischen Auslegung behandeln. Ihrer besonderen praktischen Bedeutung (und wohl auch dem traditionellen Verständnis der „systematischen Auslegung“) wird dies freilich nicht gerecht. Daher soll hier nur hervorgehoben werden, dass Selbst-Referenzen die mit Abstand häufigste Argumentationsform in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind und etwa deutlich häufiger auftreten als die klassischen Methoden des Savigny’schen Auslegungsquartetts.[36] Wirklich überraschend ist dies freilich nicht, wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass die Normtexte selbst mangels hinreichend normativer Substanz der natürlichen Sprache die Entscheidung von Bedeutungskonflikten nicht determinieren können und daher Vorentscheidungen im Rahmen einer inferentiellen Semantik nicht zu unterschätzen sind; der Verweis auf anerkannte Folgerungen kann hier die im Verfahren umstrittene Semantik von Rechtstexten stabilisieren,[37] da eine positivere Resonanz einer bestimmten Lesart[38] als ihre Übernahme durch die (insbesondere Ober‑) Gerichte innerhalb einer Rechtsordnung schwer vorstellbar ist. Wenn dieses Phänomen hier nicht näher untersucht wird (und auch aus Umfanggründen nicht näher untersucht werden kann), so dann auch deshalb, weil in den in Bezug genommenen Vorentscheidungen irgendwann ja regelmäßig auch ohne Selbstreferenzen mit Hilfe der hier dargestellten Kanones argumentiert werden musste.
b) Verengung der Verständnismöglichkeiten
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Bedeutungsreduzierend wirkt die systematische Auslegung, wenn sich aus dem Zusammenhang mit einer anderen Regelung ergibt, dass ein Sachverhalt, der nach dem Sprachgebrauch noch unter den Anwendungsbereich der auszulegenden Norm fallen könnte, von dieser nicht erfasst sein soll, etwa um nicht die Voraussetzungen der spezielleren, d.h. hinsichtlich des fraglichen Sachverhalts „inhaltsreicheren“ in Bezug genommenen Regelung zu unterlaufen. Würde man etwa die gewaltsame Sicherung der durch einen Sachbetrug erlangten Beute – jedenfalls für die Rechtsprechung konstruktiv vorstellbar, da diese bei der Erpressung keine Verfügung verlangt[39] – als räuberische Erpressung bewerten, so würden dadurch die speziellen Anforderungen unterlaufen, die § 252 StGB für eine Bestrafung wegen einer gewaltsamen Beutesicherung aufstellt (Diebstahl als Vortat; Betroffensein auf frischer Tat) und die wohl auch zeigen, dass die raubgleiche Bestrafung für qualifizierte Nötigungen nach Vollendung eines Vermögensdeliktes Ausnahmecharakter haben soll.[40] Die Rechtsprechung[41] erreicht dieses Ergebnis durch die Annahme, dass durch die qualifizierte Nötigung kein neuer Schaden mehr hervorgerufen werde – im denkbaren Streit darüber, wann einer Beutesicherung/Schadensvertiefung gleichwohl Schadenscharakter zukommen kann, ist aber das Argument mit der Systematik der §§ 252–255 StGB gleichwohl nicht zu unterschätzen.
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Zum anderen kann eine Reduzierung der Bedeutungsmöglichkeiten durch eine spezielle (und hinsichtlich der spezifischen Auslegungsfrage einhellige) Verwendungsweise des entsprechenden Begriffs an anderer Stelle des Gesetzes erfolgen; allerdings muss dazu geklärt werden, ob der Begriff überhaupt im gleichen Sinne verwendet werden soll, was zugleich die Grenzen der systematischen Auslegung illustriert: So hatte der BGH