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Hinzu kommt, dass die Rspr. die notwendige Einschränkung der Strafbarkeit des Verteidigers nicht auf der Ebene des objektiven Tatbestandes, sondern nahezu ausschließlich im Bereich des Vorsatzes vornimmt. Die Feststellungen des Tatrichters zur inneren Tatseite können von dem nunmehr angeklagten Verteidiger kaum erfolgreich angegriffen werden.[8]
b) Die eingeschränkte Organtheorie
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Beulke ist sich der von der „Organtheorie“ ausgehenden Gefahren für die Effektivität der Verteidigung, insbesondere durch die Inpflichtnahme des Verteidigers für staatliche Interessen, bewusst. Er sieht die Lösung darin, dass diese öffentlichen Interessen von vornherein auf die Effektivität der Verteidigung und die Effektivität der Rechtspflege in ihrem Kernbereich begrenzt werden.[9] Die Bestimmung des Kernbereichs der Rechtspflege ist indes genauso verschwommen wie der Organbegriff selbst. Recht zu geben ist Beulke allerdings dahin, dass die Verteidigung „nicht den Ast absägen sollte, auf dem sie sitzt“.[10] Allerdings ist dieser Ast nicht, wie Beulke meint, die verzichtbare, zudem konturenlose und deshalb extrem missbrauchsanfällige Organstellung, sondern vielmehr das Ansehen der Anwaltschaft, insbesondere der Verteidigung, in Justiz und öffentlicher Meinung.
c) Parteiinteressenvertretertheorie (auch Vertragstheorie)
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Nach dieser Theorie hat der Beschuldigte seine Interessen autonom zu definieren. Der Verteidiger hat ihm hierzu lediglich Hilfe zu leisten. Der Verteidiger muss zur wirksamen Vertretung der Interessen des Mandanten die gleichen Rechte wie dieser haben. Daher dürfe er in weiten Teilen straflos die Unwahrheit sagen.[11] Diese Auffassung vermag allerdings, soweit es sich bei dem Verteidiger um einen Rechtsanwalt handelt, erhebliche Widersprüche zu den Vorschriften der Bundesrechtsanwaltsordnung nicht zu lösen: Zum einen bedeutet die in § 1 BRAO statuierte Unabhängigkeit des Anwalts auch diejenige vom Mandanten. Diese verbietet es, den Anwalt zum bloßen Sprachrohr des lügenden Beschuldigten zu degradieren. Zwar enthält die Strafprozessordnung keine Wahrheitspflicht für den Beschuldigten. Die Bundesrechtsanwaltsordnung gilt indes selbstverständlich auch für den zivilrechtlich arbeitenden Anwalt. Dieser unterliegt gem. §§ 138 Abs. 1, 85 ZPO der prozessualen Wahrheitspflicht. Im Übrigen gilt die Wahrheitspflicht zumindest berufsrechtlich gem. § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO für den als Verteidiger tätigen Rechtsanwalt. Dieser darf nach dieser Vorschrift nicht bewusst Unwahrheiten verbreiten.
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Schließlich verkennt diese Theorie, dass der Verteidiger vom Gesetz ausdrücklich als „Beistand“ und nicht als Vertreter bezeichnet wird, § 137 Abs. 1 StPO. Als Beistand hat der Verteidiger eigene und zum Teil über die des Beschuldigten hinausgehende Rechte, bspw. das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 Abs. 1 StPO und das Recht auf unmittelbare Befragung des Mitangeklagten gem. § 240 Abs. 2 S. 2 StPO.
d) Fazit
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Keine der Theorien vermag zu überzeugen. Sie taugen allesamt nicht als Leitschnur für die tägliche Praxis des Strafverteidigers. Vor allem unterscheidet keine dieser Ansichten zwischen einer berufsrechtlichen Unzulässigkeit von Verteidigeraktivitäten und deren eventueller Strafbarkeit wegen Strafvereitelung. Der Verteidiger wird allerdings aus Gründen des Selbstschutzes die Kasuistik der h.M. in Rspr. und Lit. zu berücksichtigen haben, welche blind der Organtheorie folgt. Als Faustregel hat zudem zu gelten: Immer wenn der Verteidiger bei der Erwägung einer Aktivität Bedenken hat, mit anderen Worten: wenn Sie ihm Magenschmerzen bereitet, sollte er seinem Bauchgefühl folgen und die bedenkliche Handlung unterlassen.
Teil 1 Das Mandat des Strafverteidigers › III. Zulässiges und unzulässiges Verteidigerhandeln › 3. Die Kasuistik der h.M. hinsichtlich der Strafvereitelung gem. § 258 StGB und verwandter Delikte
a) Grundsätzliches
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Die nachfolgende Darstellung der fast unüberschaubaren Kasuistik zum unzulässigen und deshalb (eventuell) strafbaren Verteidigerverhalten beschränkt sich aus Gründen der Straffung bewusst auf die praxisrelevanteren Fälle. Da sie nicht alle denktheoretisch möglichen Fallkonstellationen behandelt, erhebt sie daher auch nicht ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit.
aa) Auskunft
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Der Verteidiger schuldet dem Mandanten eine umfassende rechtliche Auskunft sowohl in materiell-rechtlicher als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Der Anwalt darf und muss alle seine Rechtskenntnisse dem Mandanten mitteilen und ihn auf diese Weise „sachkundig“ machen. Die Erfüllung dieser Pflicht kann niemals strafbare Strafvereitelung sein.[12] Der Verteidiger darf dem Mandanten bspw. den Unterschied zwischen Diebstahl und strafloser Gebrauchsanmaßung, den Unterschied zwischen Diebstahl und unerlaubtem Benutzen eines Fahrzeuges usw. erläutern. Dies darf er auch dann, wenn der Mandant diese Rechtskenntnisse erkennbar dazu benutzen könnte, um durch entsprechende Einlassungen Straflosigkeit oder eine mildere Bestrafung zu erreichen. Auch kann und muss der Verteidiger, ohne eigene Strafbarkeit befürchten zu müssen, dem Mandanten erläutern, dass er sich nicht zur Sache äußern muss und ein Leugnen oder die Abgabe einer unwahren Einlassung sanktionslos bleiben, soweit sie nicht die Rechtsgüter Dritter verletzen, wie bspw. im Falle einer falschen Verdächtigung.[13]
bb) Beratung
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Der Unterschied zwischen Auskunft und Beratung besteht darin, dass der Verteidiger bei letzterer dem Mandanten ein bestimmtes Verhalten vorschlägt oder nahe legt. Die Beratung ist handlungsstimulierend. Zulässig ist ohne Zweifel der Rat, sich nicht zur Sache zu äußern. Fraglich ist, ob dies auch dann gilt, wenn der Mandant gegenüber seinem Verteidiger seinen Entschluss äußert, ein Geständnis abzulegen, dem Verteidiger jedoch bekannt ist, dass der Tatnachweis ohne ein Geständnis wahrscheinlich nicht zu führen sein wird. Da es dem Beschuldigten gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO freisteht, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, kann der Rat des Verteidigers, zu schweigen, von vornherein nicht unzulässig sein. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Verteidiger seinen Mandanten hierzu in strafbarer Weise nötigt (§ 240 StGB). Die Androhung der Mandatsniederlegung für den Fall der Ablegung eines Geständnisses erfüllt nicht den Tatbestand der Nötigung. Es handelt sich bei dem Anwaltsvertrag um einen Vertrag über Dienste höherer Art gem. § 627 BGB. Der Dissens über die Verteidigungsstrategie erlaubt auch dem Verteidiger die Kündigung des Mandats aus wichtigem Grund gem. § 627 Abs. 2 BGB.
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Der Rat des Verteidigers an seinen Mandanten, ein „wahrheitsgemäßes“ Geständnis zu widerrufen, soll nach der Rspr. unzulässig sein.[14] Diese Rechtsauffassung ist nicht nachvollziehbar. Der Beschuldigte darf ein Geständnis jederzeit widerrufen. Er ist nicht verpflichtet, an einer Selbstbelastung festzuhalten. Zwar verstößt der Verteidiger, so er denn Anwalt ist, mit seinem Rat, ein wahrheitsgemäßes Geständnis zu widerrufen, gegen seine berufsrechtliche Wahrheitspflicht gem. § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO. Allerdings scheidet eine Bestrafung des Verteidigers, solange er sich hierbei nicht einer strafbaren Nötigung bedient, mangels strafbarer Haupttat aus.[15] Jeder Dritte, der dem Beschuldigten zum Geständniswiderruf rät, würde sich zudem ebenfalls nicht strafbar machen. Dem Verteidiger dürfen nicht weniger Rechte als dem Dritten zustehen. Allerdings ist hier wegen der a.A. der Rspr. höchste