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Für polizeiliche Ingewahrsamnahmen „aus eigener Machtvollkommenheit“, die nicht zum Zwecke der Strafverfolgung erfolgen,[320] statuiert Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG als Höchstgrenze das Ende des auf die Ergreifung folgenden Tages.[321] Die in Satz 2 normierte Pflicht, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, wird durch diese Frist allerdings nicht suspendiert.[322] Erfolgte die Freiheitsentziehung wegen des Verdachts einer Straftat, so ist der Betroffene nach Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG spätestens am Tage nach der Festnahme[323] dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe für die Festnahme mitzuteilen und ihm rechtliches Gehör zu gewähren hat. Auch insofern besteht die Pflicht zur Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes.[324] Nach Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG hat der Richter unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. Eine unter Missachtung der Vorgaben aus Art. 104 Abs. 2, 3 GG durchgeführte Freiheitsentziehung ist rechtswidrig und daher geeignet, eine Strafbarkeit der beteiligten staatlichen Akteure wegen Freiheitsberaubung zu begründen.[325]
4. Benachrichtigungspflicht
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Gem. Art. 104 Abs. 4 GG ist von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer[326] einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Die Regelung schafft nicht nur eine objektive verfahrensrechtliche Verpflichtung des Richters, sondern auch ein korrespondierendes subjektives Recht des Festgenommenen.[327] Sie bezweckt, das insbesondere in totalitären Systemen vorkommende spurlose „Verschwindenlassen“ von Personen in Einrichtungen des staatlichen Freiheitsentzuges zu verhindern[328] und soll damit nicht zuletzt auch die Teilhabe an den übrigen in Art. 104 GG normierten Verfahrensgarantien sicherstellen.[329] Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung sprechen trotz des Spannungsverhältnisses zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung gute Gründe dafür, einen Verzicht des Festgehaltenen auf die Benachrichtigung auszuschließen, diesem jedoch grundsätzlich ein Recht zur verbindlichen Bestimmung der zu informierenden Person einzuräumen.[330] Damit dem Wunsch des Betroffenen nach Geheimhaltung so weit wie möglich Rechnung getragen werden kann, ist der Begriff der „Vertrauensperson“ erforderlichenfalls weit auszulegen und beispielsweise auf Seelsorger oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu erstrecken.[331] Ein vollständiger Ausschluss der Benachrichtigung aufgrund von Gefährdungen des mit der Freiheitsentziehung verfolgten Zwecks kommt ebenfalls nicht in Betracht; allenfalls kann die Benachrichtigung bestimmter, der Komplizenschaft verdächtiger Personen untersagt werden (i.d.S. auch § 114b Abs. 1 StPO für die Untersuchungshaft).[332]
5. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft
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Das BVerfG hat schon früh im sog. Wencker-Beschluss auf „das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung“ hingewiesen, das im Rechtsinstitut der Untersuchungshaft in besonderem Maße sichtbar wird.[333] Das Gericht betonte den Ausnahmecharakter, der einer lediglich auf Verdachtsgründe gestützten Freiheitsentziehung in einem Rechtsstaat zukommen müsse, und hob hervor, dass „den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten“ werden müsse.[334] Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft müssten vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit sei nur hinzunehmen, wenn und soweit erstens wegen dringenden, auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestünden und zweitens der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige und rasche Bestrafung des Täters nicht anders als durch die vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen gesichert werden könne. Die Verfolgung anderer Zwecke durch die Untersuchungshaft sei grundsätzlich ausgeschlossen; namentlich dürfe sie nicht nach Art einer Strafe den Rechtsgüterschutz vorwegnehmen, dessen Verwirklichung das materielle Strafrecht dienen solle.[335] In einem deutlichen Kontrast zu diesen verfassungsrechtlichen Leitlinien stehen Berichte aus der Praxis, die einen instrumentellen Einsatz des Rechtsinstituts zur Verfolgung sog. apokrypher Haftgründe (etwa mit dem Ziel der Geständniserzwingung) nahelegen.[336]
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Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch Bedeutung für die Frage zu, unter welchen Voraussetzungen eine einmal angeordnete Untersuchungshaft aufrechterhalten werden darf.[337] Danach ist zum einen zu berücksichtigen, dass sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrößern kann[338] und regelmäßig vergrößern wird.[339] Zum anderen darf die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt der Haftdauer jedoch nach Auffassung des Gerichts auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen. Das damit angesprochene, grund- und menschenrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot[340] verlange, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die notwendigen Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.[341] Eine unzureichende personelle und sachliche Ausstattung entlaste insoweit nicht.[342] Komme es auf Grund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens, so stehe dies der Anordnung der Haftfortdauer entgegen.[343]
Ausgewählte Literatur
Bettermann, Karl August | Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 94 (1969), 263 ff. |
Eschelbach, Ralf | Gehör vor Gericht, GA 2004, 228 ff. |
Gusy, Christoph | Verfassungsfragen des Strafprozessrechts, StV 2002, 153 ff. |
Gusy, Christoph | Grundrechtssicherung durch Richtervorbehalte, in: Stuckenberg, Carl-Friedrich/Gärditz, Klaus Ferdinand (Hrsg.), Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtstaat. Festschrift für Hans-Ullrich Paeffgen, 2015, S. 407 ff. |
Herzog, Felix | Über bewegliche Zuständigkeitsregelungen, instrumentelle Zuständigkeitswahl und das Prinzip des gesetzlichen Richters, StV 1993, 609 ff. |
Jahn, Matthias/Krehl, Christoph/Löffelmann, Markus/Güntge, Georg-Friedrich | Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2. Aufl. 2017 (zit.: Jahn et al.-Bearbeiter, Verfassungsbeschwerde). |
Kazele, Norbert | Untersuchungshaft, 2008. |
Lübbe-Wolff, Gertrude | Substantiierung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Die Zulässigkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2004, 669 ff. |
Nehm, Kay | Die Verwirklichung der Grundrechte durch die Gerichte im Prozeßrecht und Strafrecht, in: Heyde, Wolfgang/Starck, Christian (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 173 ff. (zit.: Heyde/Starck-Nehm). |