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Die durch Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG statuierten Bestimmtheitsanforderungen entsprechen denen aus Art. 103 Abs. 2 GG; daher gilt auch bei der Begründung von Freiheitsbeschränkungen i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ein strenges Analogieverbot und ein Verbot des Rückgriffs auf Gewohnheitsrecht.[283] Infolge der Aufwertung von Verstößen gegen einfachgesetzliche Verfahrensgarantien zu Verfassungsverstößen unterbleibt die sonst übliche Beschränkung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes auf Verletzungen „spezifischen Verfassungsrechts“.[284] Eine vertretbare Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts durch die Fachgerichte, die das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG hinreichend beachtet und seine Mindestanforderungen nicht verkennt, hat das BVerfG allerdings auch in diesem Zusammenhang hinzunehmen.[285]
2. Misshandlungsverbot
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Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG verbietet die seelische und körperliche Misshandlung festgehaltener Personen und normiert damit Anforderungen an die Art und Weise des Vollzuges von Freiheitsbeschränkungen, die insbesondere als Konkretisierung der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zu sehen sind.[286] Die Vorschrift stellt eine Reaktion auf den Befund dar, dass vor allem Freiheitsentziehungen das Misshandlungsrisiko erfahrungsgemäß steigern, und zwar auch dann, wenn sie hoheitlich veranlasst sind.[287] Art. 104 Abs. 1 S. 2 gilt vorbehaltlos, d.h. das Misshandlungsverbot ist einer Abwägung mit konfligierenden Interessen nicht zugänglich.[288] Hervorhebung verdient weiter die normative Feststellung, dass der Schutz vor Misshandlungen in Justizvollzugsanstalten nicht geringer ist als außerhalb.[289] Bei Verletzungen, die während des Polizeigewahrsams entstanden sind, trägt nach der Rechtsprechung des EMGR zu Art. 3 Abs. 1 EMRK der Staat die Beweislast dafür, dass sie nicht durch polizeiliche Misshandlung entstanden sind.[290]
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Von einem „Festhalten“ i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist nach zutreffender, am Sinn und Zweck der Norm ausgerichteter Ansicht immer dann auszugehen, wenn der Betroffene der Misshandlung nicht dadurch entgehen kann, dass er sich entfernt, was beispielsweise auch bei einer Vernehmung oder bei einer ein Weggehen verhindernden Einkreisung der Fall sein kann.[291] Als „körperliche Misshandlung“ wird in Anlehnung an das zu § 223 StGB entwickelte Begriffsverständnis jede üble und unangemessene Behandlung angesehen, welche das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.[292] Eine seelische Misshandlung liegt in jeder entehrenden und entwürdigenden Behandlung, die beispielsweise in einer schweren Beleidigung oder in der Durchführung eines unnötigen psychologischen Tests zu sehen sein kann.[293]
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Angesichts des vorbehaltlosen Charakters des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG wird allerdings im Schrifttum verschiedentlich hervorgehoben, dass nicht bereits jede im Zusammenhang mit einer Freiheitsbeschränkung stehende Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder der freien Willensbestimmung als Misshandlung angesehen werden könne.[294] Ergänzend wird daher das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gefordert, wie sie auch von Art. 3 EMRK verboten wird.[295] In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, die in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK entwickelten Maßstäbe auch für die Auslegung des Misshandlungsverbotes aus Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG entsprechend heranzuziehen.[296] Die Regelung verbotener Vernehmungsmethoden in § 136a StPO ist – jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale – mit Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar und geht sogar über dessen Gewährleistungsgehalt hinaus, indem sie etwa auch Täuschungen erfasst.[297]
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Unzweifelhaft von Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG erfasst ist nach alldem jede Form staatlicher Folter, die aufgrund der Abwägungsfestigkeit der Garantie auch nicht in Form der sog. „Rettungsfolter“ zulässig ist.[298] Auch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Beweisgewinnung, in welcher der EGMR im Fall Jalloh gegen Deutschland einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK gesehen hat, ist als Misshandlung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen.[299] Hingegen soll die mit der Intention der Lebensrettung erfolgende Zwangsernährung des in einem Hungerstreik befindlichen Strafgefangenen zumindest dann keine Misshandlung darstellen, wenn der Betroffene nicht mehr selbstbestimmt handeln kann.[300] Diese Ansicht beruht jedoch auf einem veralteten paternalistischen Konzept, das spätestens seit der Kodifikation der Patientenverfügung in § 1901a BGB[301] und der restriktiven Entscheidungen des BVerfG zur Zwangsbehandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug[302] nicht mehr haltbar erscheint. Das Anstaltspersonal hat die in freier Selbstbestimmung ausgeübte Nahrungsverweigerung eines Gefangenen daher auch dann zu akzeptieren, wenn der Betroffene zu versterben droht.[303] Bedenken begegnet schließlich auch, dass das BVerfG in einer Kontaktsperre nach den §§ 31 ff. EGGVG keine Verletzung des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG gesehen hat; hier legt die mit der Intensität und Dauer der Sperre verbundene Inhibierung von Außenkontakten die Annahme eines Verfassungsverstoßes nahe.[304]
3. Richtervorbehalt
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Für die Freiheitsentziehung als schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG normierten Gesetzesvorbehalt den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht.[305] Nach Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG darf eine Freiheitsentziehung grundsätzlich nur auf der Grundlage einer vorherigen richterlichen Anordnung erfolgen. Liegt der Freiheitsentziehung ausnahmsweise keine solche Anordnung zugrunde, so ist die richterliche Anordnung gem. Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG unverzüglich – d.h. „ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt“[306] – herbeizuführen. Als unvermeidbar gelten beispielsweise „Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind“; hingegen wird die mangelnde Erreichbarkeit eines Richters nicht ohne Weiteres als unvermeidbares Hindernis für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung angesehen.[307] Die Inanspruchnahme der in Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG vorgesehenen Eilkompetenz muss nach den Art. 104 GG zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Wertungen grundsätzlich der Ausnahmefall bleiben;[308] sie kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG nur in Betracht, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte Zweck anders nicht erreichbar wäre.[309] Letzteres wird allerdings – worauf das BVerfG in der bereits erwähnten (Rn. 56) Entscheidung zur Fixierung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung zu Recht hingewiesen hat, regelmäßig der Fall sein, wenn die Maßnahme zur Abwehr einer von dem Betroffenen ausgehenden akuten Selbst- oder Fremdgefährdung erfolgt.[310] Zum Begriff der Entscheidung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG gehört, dass der Richter in vollem Umfang die Verantwortung für die Maßnahme zu übernehmen hat.[311] Hieraus ergeben sich im Wege der Vor- und Nachwirkung Ermittlungs-, Anhörungs- und Begründungspflichten,[312] deren Details Gegenstand einer ausgedehnten bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur sind (dazu für die Untersuchungshaft sogleich bei Rn. 67 f.).[313]
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Die staatlichen Organe trifft eine Pflicht zur Effektivierung des Richtervorbehalts. Sie haben die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters zu gewährleisten und diesem eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.[314] Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss ein Haftrichter „jedenfalls zur Tageszeit“ verfügbar sein;[315] darüber hinaus ist jedoch auch außerhalb der regelmäßigen Dienstzeiten – d.h. an Wochenenden und Feiertagen[316] sowie nach zutreffender Ansicht bei einem über den Ausnahmefall hinausgehenden praktischen Bedarf auch zur Nachtzeit[317] – ein richterlicher Bereitschaftsdienst einzurichten. Mit Blick auf die Einhaltung des Richtervorbehaltes gem. Art. 104 Abs. 2 GG bei Fixierungen hat der Zweite Senat des BVerfG jüngst die Einrichtung „eines täglichen richterlichen Bereitschaftsdienstes“ verlangt, „der – in Orientierung an § 758a