1. Historie
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Aussagepsychologische Gutachten werden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erstmalig im Jahr 1954 (in BGH [5 StR 416/54][1]) erwähnt. Danach sind Sachverständige zu bestellen, wenn die Zeugenaussagen von Kindern oder Jugendlichen die alleinigen oder wesentlichen Beweismittel darstellen. Damit sind aussagepsychologische Gutachten seit mehr als 50 Jahren als Beweismittel in Strafverfahren dem Grunde nach anerkannt.
Ausführliche Abhandlungen zu „historisch-psychologischen Betrachtungen der Zeugenaussage“ finden sich bei Kühne[2], die auf die Werke zu den Anfängen der Aussagepsychologie Anfang des letzten Jahrhunderts von Binet[3], Stern[4] und Münsterberg[5] hinweist, wie auch bei Müller-Luckmann[6], Köhnken[7]und Steller[8], Steller/Böhm[9] ziehen Bilanz über „50 Jahre Rechtsprechung des BGH zur Aussagepsychologie“.
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Erste bis dritte Phase. William Stern[10] verstand schon 1902 die Aussage als geistige Leistung und zugleich als Verhörsprodukt. „Dieser Titel beschreibt das Konzept der Aussagepsychologie: Eine Aussage wird als Leistungsprodukt aufgefaßt, das nicht nur abhängig ist von personalen Merkmalen (geistige Leistung), sondern auch durch situative Merkmale bedingt sein kann, z. B. durch Merkmale der Befragungsumstände (Verhörsprodukt)“, erläutern Steller/Volbert[11] dazu.
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Stern
Aussage = Geistige Leistung + Verhörsprodukt
Mitte des letzten Jahrhunderts wurden psychologische Sachverständige immer häufiger in gerichtlichen Verfahren hinzugezogen. Sie beschränkten sich nicht wie bis dahin auf das Aktenstudium, sondern nahmen auch zunehmend eigene Untersuchungen an Zeugen vor mit dem Ergebnis, dass Aussagen minderjähriger Zeugen über an ihnen verübten Unzuchtshandlungen in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Wahrheit entsprachen[12]. Undeutsch[13] stellte diese Erkenntnis erstmalig 1953 und dann wiederholt weiter begründet in seinen späteren Veröffentlichungen 1956, 1957, 1959, 1965 und 1966 vor[14].
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Vierte Phase. Undeutsch forderte 1953 auf dem 19. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Köln dazu auf, die Glaubhaftigkeit der Aussage in den Mittelpunkt der Glaubwürdigkeitsbeurteilung zu stellen. Er läutete damit eine neue Phase der Aussagepsychologie ein, die heute die Glaubhaftigkeitsbegutachtung bestimmt. Die von ihm aufgestellte Hypothese lautete: Aussagen über tatsächlich Erlebtes unterscheiden sich inhaltlich systematisch von erfundenen Aussagen (von Steller 1997 als Undeutsch-Hypothese[15] benannt).
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Undeutsch-Hypothese
Aussagen über tatsächlich Erlebtes
unterscheiden sich inhaltlich systematisch von
Aussagen über Erfundenes
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Überblick über die Entwicklung der (deutschsprachigen) Aussagepsychologie
Bei Greuel[16] findet sich ein Überblick über die Entwicklung der (deutschsprachigen) Aussagepsychologie im letzten Jahrhundert:
Zeitraum | Bezeichnung | Methodischer Zugang | Publikations-Beispiele | Zentrale Konstrukte |
---|---|---|---|---|
1900 – 1930 | Experimentelle Frühphase | Laborexperi-mente Wirklichkeits-Versuche | William Stern (1902)[17] | Aussagegenauigkeit Aussagetüchtigkeit Aussagezuverlässigkeit Inwieweit kann die normale Zeugenaussage als eine korrekte Wiedergabe des objektiven Sachverhalts gelten? |
1930 – 1945 | Abstinenzphase | – | – | – |
1945 – 1980 | Erfahrungs- und Entwicklungsphase | Forensische Sachverständigentätigkeit Experimentelle Forschung | Undeutsch (1967)[18] Arntzen (1971)[19] Trankell (1971)[20] Köhnken (1989)[21] | Strikte Trennung zwischen Glaubwürdigkeit der Person und Glaubhaftigkeit der Aussage Aussagequalität Glaubwürdigkeitsmerkmale |
80er Jahre | Evaluations-Studien Validierungs-Experimente | Experimentelle Validierungs-Phase | Steller (1988) Ceci & Bruck (1993)[22] Volbert & Pieters (1996)[23] | Aussagequalität Aussagetüchtigkeit Aussagezuverlässigkeit Merkmalsorientierte Aussageanalyse Suggestive Beeinflußbarkeit und Verfälschbarkeit (kindlicher) Aussagen |
90er Jahre | Simulationsstudien Theoretische Modellbildungen | Integrationsphase | Greuel et al. (1998)[24] Steller/Volbert/ Wellershaus (1993)[25] Sporer (1997)[26] Stadler (1997)[27] Steller & Volbert (1997)[28] | Aussagetüchtigkeit Aussagequalität Aussagezuverlässigkeit |
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Viele Jahre hatte die Justiz keinerlei Interesse an aussagepsychologischen Forschungserkenntnissen gezeigt. Es wird vermutet[29], dass das vor allem an der „fehlenden Lebensnähe“ der vorwiegend im Labor durchgeführten Experimente gelegen hat[30].
Arntzen hat Anfang der neunziger Jahre die praktische Verbreitung der Aussagepsychologie gefördert[31].
Wissenschaftliche Fortentwicklung erfuhr die Aussagepsychologie insbesondere durch Arbeiten von Professor Köhnken, Professor Steller, Professor Volbert und Professor Greuel und deren Mitarbeiter. Näheres zu deren Veröffentlichungen findet sich unter Punkt 8, Rn. 44.
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Suggestionsforschung. Greuel[32] spricht von der Suggestionsforschung als dem aussagepsychologischen Forschungsthema ab 1980.
Die Anfänge der Suggestionsforschung gehen auf Arbeiten von Binet[33], Münsterberg[34], Stern[35] und Stern/Stern[36] Anfang des letzten Jahrhunderts zurück. Stern[37] sprach – wie schon oben erwähnt – 1902 von der Aussage nicht nur als geistiger Leistung sondern auch als Verhörsprodukt,