Die Beantwortung dieser Frage hängt in einem ersten Schritt davon ab, ob die Eingriffsbefugnisse dem Nachbarn ein subjektiv-öffentliches Recht, also einen Anspruch – zunächst einmal auf ermessensfehlerfreie Entscheidung – vermitteln können[864]. Antwort auf diese Frage gibt die bereits erwähnte Schutznormtheorie, wonach es darauf ankommt, ob eine Norm nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch den Belangen des Einzelnen zu dienen bestimmt ist[865]. Während die individualrechtliche Schutzrichtung der (bau)polizeilichen Generalklausel (anhand derer exemplarisch der Anspruch auf Einschreiten gezeigt werden kann) früher bestritten wurde, ist sie heute allgemein anerkannt[866]. Damit steht bislang aber nur fest: Eine bauaufsichtliche Eingriffsbefugnis kann unter gewissen Voraussetzungen eine Anspruchsnorm darstellen.
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Das ist freilich nur dann der Fall, wenn – zweitens – ein individualisiertes Schutzgut des Nachbarn auch wirklich in Rede steht, denn einen abstrakten, also vom materiellen Recht losgelösten Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt es nicht[867]. In baurechtlichen Nachbarstreitigkeiten ergibt sich die individualschützende Wirkung der Eingriffsbefugnis typischerweise aus ihrer Verbindung mit einer weiteren Schutznorm[868]. Es ist daher stets zu fragen, ob in dem „Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften“, den die bauordnungsrechtlichen Befugnisse regelmäßig tatbestandlich voraussetzen, gerade ein Verstoß gegen nachbarschützende Bestimmungen liegt. Denn nur dann dient das behördliche Einschreiten wirklich gerade auch dem Schutz des Nachbarn. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass bei den Nachbarrechtsstreitigkeiten zwei Schutznormen vorliegen müssen.
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Als Rechtsfolge sehen sämtliche bauaufsichtlichen Eingriffsbefugnisse Ermessen vor[869]. Der Nachbar hat dementsprechend nur dann einen Anspruch auf Einschreiten, wenn sich – drittens – zumindest das Entschließungsermessen der Bauaufsichtsbehörde auf Null reduziert. Ob dies der Fall ist, richtet sich grundsätzlich nach Landesrecht[870]. In Literatur und Rechtsprechung ist umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine solche Ermessensreduktion angenommen werden muss[871]. Nach häufig vertretener Auffassung führt nicht jede Verletzung von nachbarschützenden Vorschriften automatisch zu einer Ermessensreduktion auf Null. Vielmehr müsse es sich um einen erheblichen Verstoß handeln oder eine schwere Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut des Nachbarn bestehen[872]. Begründet wird diese Ansicht zumeist mit einem Vergleich mit dem Allgemeinen Polizeirecht und dem Hinweis, das Opportunitätsprinzip dürfe nicht unterlaufen werden[873].
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Diese Sichtweise gerät zunehmend in die Kritik. Auffallend ist der Widerspruch zur Argumentation in derjenigen Konstellation, in der die Bauaufsichtsbehörde von Amts wegen einschreiten will. Hierfür verlangt die Rechtsprechung für den Regelfall von der Bauaufsichtsbehörde keine Ermessenserwägungen, weil die Behörde grundsätzlich einzuschreiten habe (intendiertes Ermessen)[874]. Unklar bleibt nun, warum das nicht auch in der Nachbarkonstellation gelten soll[875]. Konsequenterweise muss auch hier von der Bauaufsichtsbehörde regelmäßig ein Einschreiten verlangt werden können[876].
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Bewegung in diesen Streit hat vor allem die Verfahrens- und Genehmigungsfreistellung im Zuge der Deregulierung gebracht. Vermehrt wird es als wenig überzeugend empfunden, dem Nachbarn keinen Anspruch auf Einschreiten, sondern nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zuzubilligen, obwohl ihm bereits wegen des Abbaus der präventiven Eröffnungskontrollen die Möglichkeit der Anfechtung einer Baugenehmigung genommen wurde. Deshalb soll das Ermessen in diesen Fällen regelmäßig auf Null reduziert sein, um einen Ausgleich für die weggefallene präventive Kontrolle zu schaffen[877]. Diese Argumentation beruht also letztlich auf einem Kompensationsgedanken[878]. Denn hätte der Nachbar noch die Möglichkeit der Anfechtung einer Baugenehmigung, wäre lediglich die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung und Rechtsverletzung des Nachbarn entscheidend (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO); in der Anfechtungssituation ist kein Raum für ein Ermessen der Bauaufsichtsbehörde. Die neue Regelungstechnik – von der Baugenehmigung zur Freistellung – habe aber nicht die Schlechterstellung des Nachbarn bezweckt[879].
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Freilich sind diese Argumente zugunsten eines effektiveren Nachbarschutzes ihrerseits nicht ohne Widerspruch geblieben. Einerseits sehen manche den für den Nachbarn durch die Deregulierung ausgelösten Wechsel von der Anfechtungsklage zur Bescheidungsklage als durchaus gewollt an. Teilweise wird deshalb gefordert, den Nachbarn in diesen Fällen gerade auch vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Ziels der Entlastung der Verwaltung auf den Zivilrechtsweg zu verweisen[880]. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass der Nachbar auch früher schon für die Durchsetzung seiner Position auf das Einschreiten der Behörde angewiesen war. Denn durch erfolgreiches Anfechten einer Baugenehmigung verschwindet ja noch nicht der illegale Bau[881].
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Dennoch besteht – schon wegen des Arguments des intendierten Ermessens – zunehmend Einigkeit, dem Nachbarn einen Anspruch auf Einschreiten zuzubilligen. Die genaue dogmatische Begründung fällt im Hinblick auf die vier oben genannten Konstellationen allerdings unterschiedlich aus[882]. Wie bereits dargestellt, steht bei fehlender Eröffnungskontrolle (vierte Konstellation) der Kompensationsgedanke im Vordergrund[883]. Ähnlich liegt es beim Schwarzbau (dritte Konstellation), bei dem der Nachbar ebenfalls vollständig auf das repressive Einschreiten angewiesen ist[884], sowie beim Überschreiten der Baugenehmigung durch den Bauherrn (erste Konstellation). In der zweiten Konstellation (aufgehobene rechtswidrige Baugenehmigung) steht dem Nachbarn nach dogmatisch zutreffender Ansicht gegen die Behörde zwar ein Folgenbeseitigungsanspruch zu[885]. Um diesen zu erfüllen, bedarf die Behörde allerdings einer Ermächtigungsgrundlage gegenüber dem Bauherrn, die wiederum regelmäßig im Ermessen steht. Hier ist es dann die Folgenbeseitigungslast, die die Bauaufsichtsbehörde regelmäßig zu einem Einschreiten verpflichtet[886].
3. Nachbarrechtsschutz bei beschränktem Prüfprogramm
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Zu einer besonderen Konstellation im baurechtlichen Nachbarschutz kann es durch die im Zuge der Deregulierung eingeschränkten Prüfprogramme im Baugenehmigungsverfahren kommen, insbesondere bei der vereinfachten Baugenehmigung. Denkbar ist nunmehr ein Verstoß gegen eine nachbarschützende Vorschrift, die außerhalb des Prüfungsprogramms der Bauaufsichtsbehörde liegt (etwa Regelungen zu Abstandsflächen[887]). Da die Feststellungswirkung der (vereinfachten) Baugenehmigung nur auf die zu prüfenden Vorschriften beschränkt ist, würden hier Anfechtungswiderspruch bzw. -klage ins Leere zielen[888]. Vielmehr muss der Nachbar im diesem Fall einen Anspruch auf behördliches Einschreiten geltend machen[889]. Es kann damit zu einer Aufspaltung oder Zweigleisigkeit des öffentlichen Nachbarrechtsschutzes kommen, sofern die Anlage sowohl gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt, die innerhalb des Prüfprogramms liegen, als auch gegen solche, die nicht mehr vom Prüfungsprogramm umfasst sind[890]. Anfechtungsklage gegen die (vereinfachte) Baugenehmigung und Verpflichtungsklage auf Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde müssen dann kombiniert werden (§ 44 VwGO).
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Schließlich bietet auch die Möglichkeit der Bauaufsichtsbehörde, die Baugenehmigung wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses zu versagen, dem Nachbarn keinen Ausweg aus dem Problem der Aufspaltung des Rechtsschutzes. So kann die Baugenehmigung nicht etwa mit dem Argument angefochten werden, die Bauaufsichtsbehörde hätte im Wege des Sachbescheidungsinteresses die an sich außerhalb des Prüfungsprogramms liegenden nachbarschützenden Normen doch einbeziehen und die Baugenehmigung bei erkannten Verstößen versagen müssen. Denn die Möglichkeit der Ablehnung wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses erweitert einzig die Handlungsmöglichkeiten der Bauaufsichtsbehörde und ist nicht drittschützend[891]; eine entsprechende Ablehnung des Bauantrags stellt für den Nachbarn lediglich einen günstigen „Rechtsreflex“ dar[892]. Selbst wenn man diejenigen Regelungen, die