f) Der Einfluss von Treu und Glauben auf den Lauf der Rechtsbehelfsfristen des Nachbarn
176
§ 43 Abs. 1 S. 1 der jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetze[848] macht die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts von dessen Bekanntgabe abhängig. Die Anforderung der individuellen Bekanntgabe an Adressaten und Betroffene hat zur Konsequenz, dass bei mehreren involvierten Personen – etwa dem Bauherrn als Adressaten einer Baugenehmigung und dem Nachbarn als Betroffenen – die Wirksamkeit des Verwaltungsakts gegenüber den Genannten zeitlich auseinanderfallen kann; möglich ist auch, dass einem Betroffenen gegenüber der Verwaltungsakt überhaupt nicht wirksam wird[849]. In Nachbarrechtsstreitigkeiten kann die zeitliche Divergenz dazu führen, dass dem Nachbarn wegen späterer Bekanntgabe im Sinne von § 41 LVwVfG[850] noch immer eine Widerspruchs- und Anfechtungsmöglichkeit zusteht, obwohl die Baugenehmigung dem Bauherrn gegenüber schon bestandskräftig geworden ist und der Nachbar faktisch schon lange Kenntnis von der Baugenehmigung hatte oder hätte haben müssen[851]: Die Bekanntgabe der Baugenehmigung an den Bauherrn setzt eben nicht automatisch die Rechtsbehelfsfristen für den Nachbarn in Gang, weil der Fristbeginn aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit an die individuelle Bekanntgabe gekoppelt ist (§§ 70 Abs. 1 S. 1, 74 Abs. 1 S. 2 VwGO)[852]. Das Problem wird weiter verschärft durch die Einführung der fingierten Baugenehmigung, die manche Bauordnungen für das vereinfachte Genehmigungsverfahren vorsehen[853]. Eine solche fingierte Baugenehmigung aber wird dem Nachbarn regelmäßig nicht förmlich bekannt gemacht[854].
177
Hat der Nachbar auch ohne amtliche Bekanntmachung von der Baugenehmigung Kenntnis erlangt (oder hätte er sie erlangen müssen), scheidet zwar eine analoge Anwendung der Rechtsbehelfsfristen mangels Vergleichbarkeit und Regelungslücke aus. Die Rechtsprechung gelangt indes über die Konstruktion eines „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses“, das nach Treu und Glauben besondere Rücksichten der Nachbarn untereinander erfordere, zu ähnlichen Ergebnissen: Der Nachbar muss sich bei zuverlässiger Kenntniserlangung, aber auch bei grob fahrlässiger Unkenntnis der Baugenehmigung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung amtlich bekannt gegeben worden, um den Schaden des Bauherrn möglichst zu vermeiden oder jedenfalls gering zu halten[855]. Weil es in diesen Konstellationen freilich regelmäßig an der Rechtsbehelfsbelehrung fehlt, gilt die Jahresfrist nach §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO ab zuverlässiger Kenntniserlangung bzw. ab dem Zeitpunkt der groben Fahrlässigkeit[856].
178
Liegen die Voraussetzungen der Verwirkung – Zeit- und Umstandsmoment – als Unterfall des Grundsatzes von Treu und Glauben vor, kann der Nachbar sowohl sein Verfahrensrecht (bspw.: Widerspruchsrecht) als auch sein materielles Abwehrrecht auf diese Weise verlieren[857]. Diese Folge ist bereits vor Ablauf der Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO möglich[858].
g) Maßgebliche Sach- und Rechtslage
179
Sowohl während des gesamten baugenehmigungsrechtlichen Ausgangs- und Widerspruchsverfahrens als auch während des Verwaltungsprozesses kann sich die maßgebliche Sach- und Rechtslage verändern. Dies wirft die Frage auf, auf welchen Zeitpunkt das Gericht abstellen soll bei der Beurteilung, ob die Baugenehmigung rechtswidrig ist und den Nachbarn in seinen Rechten verletzt. Da das Gericht – so zumindest im Ausgangspunkt – die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung „im Moment ihrer Fixierung durch die Behörde“ bewerten soll, gilt für die Anfechtungsklage der Grundsatz, dass auf die letzte behördliche Entscheidung abzustellen ist, also regelmäßig auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids[859]. Diese Faustformel hat zur Folge, dass auch Änderungen der Sach- und Rechtslage während des Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen sind, weil Ausgangs- und Widerspruchsverfahren eine Einheit darstellen[860]. Modifikationen dieser Faustformel können sich aber aus dem materiellen Recht ergeben – und eben das ist im Bauordnungsrecht der Fall: Hier sind Rechtsänderungen, die während des Widerspruchsverfahrens zu Lasten des Bauherrn eintreten, im Hinblick auf die ihm mit der Baugenehmigung eingeräumte Rechtsposition – die vom Schutz der Eigentumsfreiheit umfasst ist – nicht zu berücksichtigen[861]. Ändert sich die Rechtslage dagegen zugunsten des Bauherrn, nachdem ihm ursprünglich eine rechtswidrige Baugenehmigung erteilt worden war, kommt ihm diese Änderung zu Recht zugute – andernfalls müsste dem Bauherrn nach Aufhebung der Baugenehmigung sofort eine neue Baugenehmigung erteilt werden[862]. In einem solchen Fall bleibt dem Nachbarn nur, die Hauptsache für erledigt zu erklären, um nicht auf den Verfahrenskosten sitzen zu bleiben (siehe § 161 Abs. 2 VwGO).
2. Anspruch auf behördliches Einschreiten
180
Wie die Kontrollpflichten der Bauaufsichtsbehörden – zumindest traditionell – mit der präventiven und der repressiven Bauaufsicht zweigleisig verlaufen, so hat auch der Nachbar herkömmlich zwei Ansatzmöglichkeiten, gegen das Bauen des Bauherrn vorzugehen: Einerseits kann er die Baugenehmigung anfechten (präventiver Rechtsschutz), andererseits kann er das repressive Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde beantragen. Dabei hat die repressive Kontrolle durch den Abbau der Eröffnungskontrolle im Rahmen der Deregulierung nicht nur für die Bauaufsichtsbehörde, sondern auch für den Nachbarn an Bedeutung gewonnen[863]. Bedarf es für den Bauherrn wie beim Anzeigeverfahren oder der Verfahrensfreistellung keiner Baugenehmigung mehr, ist für den Nachbarn der präventive Nachbarschutz verloren. Für ihn hängt dann alles vom repressiven Nachbarschutz ab.
181
Im Einzelnen stehen folgende vier Konstellationen im Vordergrund, in denen der Nachbar auf das Einschreiten durch die Bauaufsichtsbehörde dringen möchte: Erstens ist an den Fall zu denken, in dem der Bauherr zwar eine Baugenehmigung erteilt bekommen hat, sich aber beim Bau nicht an deren Vorgaben hält. Zweitens sind Konstellationen vorstellbar, in denen der Nachbar bereits präventiv erfolgreich gegen die Baugenehmigung vorgegangen ist, nun aber auf das Einschreiten der Behörde gegen den Bauherrn angewiesen ist, weil dieser bereits mit dem Bau begonnen hatte; denn wegen der Regelung in § 212a BauGB hatten Widerspruch und Anfechtungsklage des Nachbarn keine aufschiebende Wirkung. Drittens existiert der typische Fall des Schwarzbaus, bei dem der Bauherr formell (und materiell) baurechtswidrig eine bauliche Anlage errichtet hat. Hinzu kommen – viertens – die nunmehr in den Vordergrund getretenen Fälle, in denen der Bauherr zwar keiner (bzw. keiner vollumfänglichen) Baugenehmigung mehr bedarf, sein Vorhaben aber dem materiellen öffentlichen Baurecht widerspricht.
182
Die Eingriffsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörden wurden bereits ausführlich dargelegt (siehe Rn. 111 ff.). Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass sämtliche Eingriffstatbestände im Ermessen der Behörde stehen (Opportunitätsprinzip). Aus Sicht des Nachbarn stellt sich typischerweise zunächst die Frage, ob er überhaupt, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörden gegen den Bauherrn verlangen kann. Gedanklich ist hier in