Weise gedeutet werden, dass entweder eine der auf die Einhaltung straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben ausgerichteten Hauptkultur entgegengesetzte Subkultur herausgebildet wird, die Normverstöße als Instrument wirtschaftlicher Zielerreichung akzeptiert.[19] Oder bei grundsätzlichem Einverständnis in Bezug auf straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben werden im Interesse des Unternehmens begangene Normverstöße im Einzelfall akzeptiert, weil der jeweilige Normappell aufgrund des Wettbewerbsdrucks oder des Erhalts von Arbeitsplätzen neutralisiert wird.[20] Ungeachtet ihres heuristischen Potentials wird man sich aber auch hier vergegenwärtigen müssen, dass diese Ansätze in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zur Erklärung jugendlicher Gang-Kriminalität in US-amerikanischen Großstädten entwickelt wurden, was erst einmal wenig mit in Unternehmenszusammenhängen begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu tun hat. Ähnliches lässt sich neueren Ausprägungen des Rational Choice-Ansatzes entgegenhalten,[21] die das Unternehmenswirken als Aggregation von Einzelentscheidungen der Mitarbeiter und das Unternehmen als korporativen Akteur verstehen, der mit einem „Bewusstsein“ sowie einem „Entscheidungs- und Handlungszentrum“ ausgestattet sei.[22] Eine solche Interpretation läuft auf eine Anthropomorphisierung von Unternehmen hinaus und blendet den Umstand aus, dass ein Unternehmen mehr als die Summe seiner Einzelteile darstellt und straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich relevantes Unternehmenswirken nicht ohne Weiteres aus der bloßen Addition einzelner Informationen, Entscheidungen und Handlungen von Unternehmensangehörigen erklärbar ist.[23] Vor diesem Hintergrund erlangt die autopoietische Systemtheorie Bedeutung, die in Gestalt des Emergenzbegriffs von vornherein davon ausgeht, dass jedes „Soziales“ in Gestalt sozialer Systeme überhaupt erst zur Entstehung bringende Kommunikation das Auftreten eines neuen Ordnungsniveaus bezeichnet, welches sich nicht mehr allein aus den Eigenschaften des ihm zugrunde liegenden Unterbaus erklären lässt.[24] Konkret: Unternehmen sind mehr als die Summe ihrer Teile.[25] Die Systemtheorie trägt von vornherein Emergenzeffekten Rechnung und bietet um den Preis eines beachtlichen Abstraktionsgrades ein erhebliches Auflösungspotential, da mit ihr ein Paradigmenwechsel von der Analyse individuellen Handelns zur Analyse überindividueller Kommunikationsprozesse verbunden ist.[26] Unmittelbare Konsequenzen für das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht lassen sich aus ihr allerdings nicht ableiten; die insoweit zutreffenden Dezisionen müssen innerhalb des Rechtssystems erfolgen. Dann aber ist von Interesse, ob, wie und warum das Etikett der straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Relevanz bestimmter Verhaltensweisen zur Anwendung gebracht wird. Kriminologisch steht dahinter der dem konstruktivistischen Paradigma verhaftete Labeling Approach Ansatz, der davon ausgeht, dass Kriminalität keine ontische Basis hat, sondern das Ergebnis von Definitionsprozessen auf der Ebene der Normsetzung und -anwendung ist.[27]
Anmerkungen
[1]
Sutherland S. 7.
[2]
Zu diesem Zusammenhang siehe Boers MSchrKrim 2001, 335, 341; Theile (2009), S. 27 ff.
[3]
Sutherland S. 4 f.
[4]
Otto MSchrKrim 1980, 397, 399; ders. Jura 1989, 24, 25; Volk JZ 1982, 82, 85. Ferner Baumann JZ 1983, 935, 936; Hassemer StV 1990, 328, 330; Herzog (1991), S. 111; Schubarth ZStW 92 (1980), 80, 105.
[5]
Baumann JZ 1983, 935, 936; Geerds (1991), S. 10; Otto MSchrKrim 1980, 397, 399.
[6]
Boers MSchrKrim 2001, 335, 338; Meier § 11 Rn. 4 f. Kritisch zu solchen Definitionsversuchen Eisenberg § 47 Rn. 3 ff.; Kaiser § 74 Rn. 11.
[7]
Boers MSchrKrim 2001, 335, 338; Meier § 11 Rn. 4 f. Kritisch zu solchen Definitionsversuchen Eisenberg § 47 Rn. 3 ff.; Kaiser § 74 Rn. 11.
[8]
Göppinger § 25 Rn. 5; Meier § 11 Rn. 6; Schwind § 21 Rn. 16. Weitere Präzisierungen bei Schmitt-Leonardy (2013), Rn. 272, 277; dies. ZIS 2015, 11, 18.
[9]
Boers MSchrKrim 2001, 335, 338; Geis (1992), S. 9; Pearce (2001), S. 35, 37; Reiss/Tonry (2001), S. 32 f. Zum Ganzen Theile (2009), S. 27 ff.
[10]
Boers MSchrKrim 2001, 335, 338; Jung (1997), S. 4; Lampe ZStW 106 (1994), 683, 708 f.; Hirsch/Hofmanski/Plywaczewski/Roxin-Lampe S. 95, 102; Schünemann (1979), S. 4 f., 16; ders. wistra 1982, 41.
[11]
Opp (1975), S. 45 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schünemann (1979), S. 6, 13 f.; ders. wistra 1982, 41.
[12]
Lampe ZStW 106 (1994), 683, 697; Schlüter (2000), S. 19; Schünemann (1979), S. 6; ders. wistra 1982, 41. Vgl. auch Pearce (2001), S. 35, 40.
[13]
Siehe hierzu auch Hefendehl MSchrKrim 2003, 27, 30 ff.; Schünemann in: Madrid-Symposium Tiedemann (1994), S. 265, 270; ders. in Schünemann (1996), S. 18 ff., 129, 131 ff.; Theile in: Rotsch (2015), § 34 Rn. 43.
[14]
Sutherland S. 17 ff., 234 ff., 257 ff.
[15]
Milgram Das Milgram Experiment (1974). Siehe hierzu Hefendehl MSchrKrim 2003, 27, 33 f.; Schünemann (1996), S. 21 ff. Neuerdings Kölbel ZIS 2014, 552, 552 ff.
[16]
Vgl. insoweit auch die Hinweise Schünemanns auf eine „kriminelle Verbandsattitüde“ in: Madrid-Symposium Tiedemann (1994), S. 265, 271. Aus kriminologischer Sicht hierzu Kölbel ZIS 2014, 552, 553 ff.; Theile in: Rotsch (2015), § 34 Rn. 43.
[17]
Siehe hierzu etwa Singelnstein MSchrKrim 2012, 52, 52 ff.; Theile in: Rotsch (2015), § 34 Rn. 44. Ferner Schneider in: FS Heinz (2012), S. 663, 673.
[18]
Vgl. Merton in: Sack/König, S. 283, 289 ff. Siehe hierzu Schmitt-Leonardy ZIS 2015, 11, 14; Singelnstein MSchrKrim 2012, 52, 53, 55 ff. Siehe ferner Agnew Criminology 30 (1992) 47, 47 ff.
[19]
Vgl.