Der andere monarchistische Grundzug des Regimes liegt wohl im Phänomen der doppelten Verantwortung der Regierung. Wenngleich die Regierung auch in der Fünften Republik der Nationalversammlung verantwortlich bleibt, so muss sie gleichermaßen im Vertrauen des Präsidenten stehen. Diese zweite Regel ist freilich nicht im Verfassungstext aufgeführt. Im Gegenteil, der Präsident verfügt über kein rechtliches Instrument, mit dem er den Rücktritt des Premierministers erzwingen könnte. Doch ist es in der Praxis Usus, dass der Premierminister auf Ersuchen des Präsidenten seinen Rücktritt einreicht. Angeblich ließ de Gaulle seine Premierminister bei ihrer Ernennung vorsichtshalber sogar undatierte Rücktrittserklärungen unterzeichnen. Die Regierung muss demnach sowohl das Vertrauen des Präsidenten als auch das Vertrauen des Parlaments genießen. Dieses Prinzip entspricht der Praxis in der Julimonarchie (1830–1848) und wird gemeinhin als „dualistischer“ oder „orleanistischer“ Parlamentarismus qualifiziert.[51] Im Falle der Cohabitation greift das Prinzip allerdings nicht (unten Rn. 35).
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Insgesamt scheint der monarchistische Einfluss auf die Fünfte Republik weitaus weniger prägend als der bonapartistische und cäsaristische Einfluss. Die Fünfte Republik knüpft zum einen an eine „Mystik des Chefs“ an, die eindeutig von autoritären Zügen gezeichnet ist.[52] Zum anderen beruht sie auf einer „Mystik der Republik“, die in ihren Grundsätzen mit einem gewissen Autoritarismus nicht unvereinbar ist, denn es geht darum, die Republik als „eine“, „unteilbare“, „laizistische“, „demokratische“ und „soziale“ zu zelebrieren. Im Kern ist der französische Republikanismus keineswegs liberal. Man kann deshalb sagen, dass die Fünfte Republik als sonderbare Synthese von Elementen der gesamten französischen Verfassungstradition seit 1789 in der Absicht seines Gründervaters eine autoritäre Republik begründen sollte.
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 3. Die besonderen Voraussetzungen der Ausübung verfassunggebender Gewalt im Jahre 1958
a) Die Algerienkrise und der Aufstand vom 13. Mai 1958
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Die Vierte Republik wurde mit den Problemen der Entkolonialisierung überfordert. Weder die kollektive Mentalität noch der schwächliche Parlamentarismus waren den vielschichtigen Schwierigkeiten dieses unaufhaltbaren Prozesses gewachsen. Im Jahr 1954 überstürzen sich die Ereignisse.[54] Seit 1952 bzw. 1953 lockert sich der starke französische Einfluss im Maghreb, bis die ehemaligen Protektorate Tunesien und Marokko im März 1956 schließlich in die Unabhängigkeit entlassen werden. Im Juli 1954 verlässt Frankreich Indochina entgültig. An Allerheiligen 1954 erfährt das Entkolonialisierungsproblem jedoch seine tragischste Wendung: Am 1. November werden in Algerien mehrere Attentate verübt, für die eine neue algerische Geheimorganisation (die Front de Libération Nationale, F.L.N.) die Verantwortung übernimmt. Der Algerienkrieg beginnt – der verschwiegene (Bürger-)Krieg, der offiziell nur als „Polizeieinsatz“, „die algerischen Ereignisse“ oder „Befriedungsprozess“ in Rede stand,[55] aber zum „Krebsgeschwür“ im Körper der Vierten Republik wurde.[56] Jedwede Lösung hätte eine stabile, handlungsfähige und relativ unabhängige Regierung erfordert, die jedoch nicht existierte. Im Laufe des Jahres 1956 fallen und folgen die Regierungen wie gewohnt aufeinander. Wegen der außenpolitischen Folgen eines Luftangriffs gegen eine in Tunesien gelegene Operationsbasis der F.L.N. tritt die Regierung am 15. April 1958 zurück.
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In dieser höchst angespannten Situation dauerte es etwa einen Monat, bis sich eine mögliche Nachfolge abzeichnete. Dieses damals übliche Szenario hatte einen tödlichen Ausgang für die von Unentschiedenheit gezeichnete Vierte Republik. Die Ereignisse vom 13. Mai 1958 waren das Ergebnis zweier „Komplotte“, von denen das erste von den in Algerien sehr aktiven rechtsradikalen Bewegungen geschmiedet, das zweite in den gaullistischen Milieus organisiert wurde.[57] Der Fortbestand des französischen Algeriens war das Ziel des geplanten Aufstands, die Armee seine Waffe. Am 9. Mai bekundeten die Generäle der in Algerien stationierten französischen Armee ihre „Angst“ vor einer „Politik der Aufgabe“ in Algerien.[58] Der nach langem Zögern vom Staatschef vorgeschlagene Ministerpräsident Pierre Pflimlin verkörpert für die Verschwörer ebendiese „Politik der Aufgabe“. Am 13. Mai, als der neue Ministerpräsident vom Parlament gewählt wird, wird das Gebäude des Regierungsrates in Algier gestürmt und mit Unterstützung der Armee ein Comité de Salut Public errichtet – ein Militärputsch. Als Antwort der Zivilbehörden wird die Einsetzung Pflimlins in der Nationalversammlung mit großer Mehrheit bewilligt. Am 15. Mai ruft General Salan vom Balkon des algerischen Regierungsrats „Vive de Gaulle!“ aus. Dieser erklärt sich am selben Tag in einer Pressemeldung dazu bereit, „die republikanische Staatsgewalt zu übernehmen“, und am 24. Mai schließt sich Korsika dem Aufstand an. Die Pläne zum Einmarsch der aufständischen Truppen in das französische Mutterland liegen schon bereit. Nach einem geheimen Treffen mit Pflimlin teilt de Gaulle am 27. Mai der Öffentlichkeit mit, er „habe das reguläre Verfahren zur Gründung einer republikanischen Regierung eingeleitet“.
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Diese Meldung war ebenso klug wie unzutreffend, da sie den Anschein erweckte, es sei eine Vereinbarung zwischen de Gaulle und den regulären Zivilbehörden getroffen worden, was bewiesenermaßen falsch ist.[59] Der Schein der Legalität wurde jedoch gewahrt. Pflimlin dementierte nicht und erklärte den Rücktritt seiner Regierung. Das Verfahren war keineswegs regulär: de Gaulle war selbstverständlich nicht dazu berechtigt, ein Verfahren zur Selbsternennung auch nur „einzuleiten“. Mit der Hervorhebung seiner eigenen Rolle, des „Ichs“, machte er jedoch allenthalben deutlich, wer im Besitz der faktischen Macht stand. Allein derjenige, der den Aufruhr stilllegen kann, ist imstande, auch tatsächlich Macht auszuüben, und allen war klar, dass es niemanden außer de Gaulle gab, der dieses Wunder vollbringen konnte. De Gaulle verkörperte damals das Maximum an Zugeständnissen, die das Parlament der Armee und die Armee dem Parlament machen konnte.[60] So wurde er zum zweiten Mal in der Geschichte zum unverhofften Mann Frankreichs. Allerdings wies de Gaulles Machtergreifung cäsaristische Züge einer „Usurpation“ auf.[61]
b) Die Machtergreifung de Gaulles und die Umgestaltung des Verfassungsänderungsverfahrens
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Am 1. Juni 1958 wurde General de Gaulle auf Vorschlag des Präsidenten der Republik, René Coty, von der Nationalversammlung zum Regierungschef gewählt.[62] Die Vorstellung des Regierungsprogramms vor den Abgeordneten fiel äußerst knapp aus und lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: eine unbeschränkte Generalvollmacht der Regierung zur Erledigung der algerischen Krise und eine „Verfassungsreform“[63]. Dass diese so genannte Verfassungsreform die Ausarbeitung einer völlig neuen Verfassung nach sich ziehen sollte, war unschwer vorhersehbar.[64] Schon in seiner berühmten Rede in Bayeux vom 16. April 1946 hatte de Gaulle das Modell