Die allgemeine Direktwahl war zur zwingenden Notwendigkeit geworden. Zwar hatte de Gaulle diese Forderung schon seit 1958 gestellt, doch hatte er in Erinnerung an den Staatsstreich, den der vom französischen Volk zum Präsidenten gewählte Louis-Napoleon Bonaparte, später Napoleon III., am 2. Dezember 1851 durchgeführt hatte, vorübergehend von dieser Idee Abstand genommen. Das Parlament sträubt sich gegen die Verfassungsreform. Ein Gewaltstreich wird erforderlich. Schon anlässlich des Referendums vom 8. April 1962 hatte der Staatschef mit Nachdruck die Tatsache betont, dass das Referendumsverfahren eine tief greifende Veränderung des politischen Systems bewerkstelligen sollte.[91] Die Reform des Präsidialwahlsystems sollte im Wege des Referendums erfolgen. Doch beschritt de Gaulle diesen Weg nicht über Art. 89 CF, der das Verfahren der Verfassungsänderung vorsieht, sondern direkt und sicherlich verfassungswidrig über Art. 11 CF und somit ohne parlamentarische Beratungen (unten Rn. 43ff.). Das Parlament reagiert mit einem Misstrauensvotum gegen die neue Regierung, woraufhin de Gaulle die Nationalversammlung auflöst und denselben Premierminister erneut ernennt. Die „Staatsgewalt“ ist insofern eindeutig stärker als die „demokratische Gewalt“, als sie sich auf ein plebiszitäres Element stützen kann, das seine – wenn auch verfassungswidrigen – Handlungen legitimiert.
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Die Wahl des Präsidenten in allgemeiner Direktwahl hat das politische System der Fünften Republik spürbar modifiziert und zugleich einige seit de Gaulles erstem Mandat prägende Züge verfestigt und verstärkt. Ausgeübt und verkörpert wurde die Staatsgewalt während des Algerienkriegs weitestgehend durch den Staatschef, der zu dieser Zeit aus der Symbolkraft der nationalen Einheit und der Mystik des Kriegschefs Nutzen ziehen konnte. Zum entscheidenden Zeitpunkt des Militärputsches in Algerien (April 1961) ergriff der Staatschef die Sonderbefugnisse aus Art. 16 CF und konzentrierte somit effektiv die Gesamtheit der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalten in seiner Person. Kurzum, Frankreich erlebte einen Staatschef, der effektiv und unmittelbar „regierte“. Die Volkswahl bestätigte diese Entwicklung.
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Diese Wahl ist in der Tat eine direkte Persönlichkeitswahl. Die Wahlmodalitäten sind klarer und einfacher verständlich als die der Abgeordnetenwahlen, wodurch die Wahl des Staatschefs zu einem Ritual wird, dessen Symbolkraft ungleich bedeutender ist. Das politische Leben dreht sich in Frankreich nunmehr um den Augenblick dieser Wahl, aber selbstverständlich findet diese Wahl mit Blick auf konkrete politische Fragestellungen und die Regierungsprogramme statt. Die Franzosen treten den Gang an die Wahlurnen nicht an, um eine Art neutrales Symbol staatlicher Einheit und Kontinuität zu wählen. Vielmehr projizieren sie all ihre politischen Erwartungen auf den Staatschef, der die Regierungspolitik orientieren und leiten soll. Die Wahl ist der Einsetzung eines der Regierung übergeordneten Chefs gewidmet. Die Organisierung des gesamten politischen Systems richtet sich nach der Präsidentenwahl, sodass die politischen Parteien gewissermaßen Maschinen zur Herstellung von Präsidentschaftskandidaten werden. Ein Präsident kann also unmöglich ein über den Parteien stehender Schiedsrichter sein, zumal er das reinste Erzeugnis parteipolitischer Schemata darstellt, ganz gleich ob er eine Partei hinter sich vereint (François Mitterrand) oder die Partei spaltet und versucht, eine neue Kraft zu errichten (Jacques Chirac). Das Referendum, mit dem das Volk die Direktwahl des Präsidenten befürwortete, hat – anders als de Gaulle am Tag nach dem Votum behauptete – keineswegs „die Verurteilung des desaströsen Parteienregimes besiegelt“[92]; im Gegenteil, es hat die Parteien letztlich rehabilitiert und gestärkt. De Gaulles gesamte Symbolik und Mystik des Staatschefs war von den Fakten widerlegt worden. Nachdem Carl Schmitt die Figur des Präsidenten als „Hüter der Verfassung“ gezeichnet hatte, legte er übrigens etwas Realismus an den Tag: „Vielleicht kann man daran zweifeln, ob es auf Dauer möglich sein wird, die Stellung des Reichspräsidenten dem parteipolitischen Betriebe zu entziehen und in einer vom staatlichen Ganzen her bestimmten, unparteilichen Objektivität und Neutralität zu halten.“[93] Die französische Erfahrung zeigt, dass man an einer solchen Möglichkeit in der Tat Zweifel hegen kann. Mit der Auflösung der paradoxen, dem politischen System der Fünften Republik immanenten Transzendenz des Staatschefs und der Abkehr vom Gründermythos seit de Gaulles erstem Nachfolger hat sich das Regime gewissermaßen normalisiert und liberalisiert.
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“
2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“[94]
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Die Normalisierung des Regimes wurde durch drei die politische Geschichte Frankreichs prägende Phänomene oder Ereignisse verfestigt. Das erste andauernde Phänomen war das gemeinhin so genannte Mehrheitsfaktum (fait majoritaire). Die auf das Referendum von 1962 folgenden Wahlen haben das politische Leben Frankreichs insofern nachhaltig polarisiert, als das traditionelle Vielparteiensystem sich nunmehr auf zwei hinreichend stabile Pole verteilte, um stabile Mehrheitskoalitionen bilden zu können. In den teilweise höchst angespannten Perioden, die einige Mehrheitskoalitionen schon erlebt haben (beispielsweise 1976–1981), reichen die Mechanismen zur Rationalisierung des Parlamentarismus und insbesondere das ausgeklügelte System des Art. 49 Abs. 3 CF (unten Rn. 83) zur Aufrechterhaltung der amtierenden Regierung aus. Ebendiese Mechanismen haben auch die Stabilität einer von der kommunistischen Partei geduldeten Minderheitsregierung gewährleistet (1988–1993). Die Polarisierung der französischen Politik wird jedoch seit Anfang der 1990er Jahre langsam, aber mit zunehmendem Nachdruck, im Lichte mehrerer Faktoren in Frage gestellt: Eine anhaltende Massenarbeitslosigkeit und ein Gefühl sozialer Unsicherheit fördern den Machtzuwachs extremer Parteien, die Spaltung in der europäischen Frage deckt sich nicht mit den Spaltungen, die auch die rechten und linken Flügel strukturieren, sondern spaltet die großen Parteien selbst in verschiedene Lager und die Präsidentenwahl begünstigt individuelle Ambitionen und setzt die Parteien höchstem internen Druck aus, der im Zweifelsfalle auch zu Brüchen führt. Das „Mehrheitsfaktum“ ist also nicht der horizon indépassable der Fünften Republik.
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Der politische Wechsel nach der Wahl des Präsidenten François Mitterrand im Mai 1981 hat, zweitens, dem Regime eine andere Legitimität gegeben als diejenige, die de Gaulle als historische und charismatische Persönlichkeit ihm hatte geben können. Mit der Wahl eines dem linken Flügel angehörigen Präsidenten wurde die Fünfte Republik, die unter dem Einfluss der cäsaristischen Tradition und der als Modell eines autoritären Republikanismus bezeichneten Mystik des Chefs stand, auf die Probe gestellt. Der neue Präsident war seit 1958 einer der heftigsten Gegner der Verfassung.[95] Nunmehr an der Spitze des Staates, passte er sich Institutionen an, die der Exekutive Vorrechte und Gewährleistungen einräumen und gerade deshalb unverzichtbar erscheinen, weil ein bedeutendes Reformprogramm in Angriff genommen werden soll. Die Linke hat sich so nicht nur den Institutionen des autoritären Republikanismus angepasst, sondern erheblich zur Festigung ihrer Legitimität beigetragen.
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Drittens