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Andere Tendenzen der Extensivierung und Überdehnung der Menschenwürdegarantie gehen über diese eher verfassungsdogmatischen Aspekte noch weit hinaus. Insbesondere in der seit Jahren mit ungewohnter Heftigkeit geführten bioethischen Debatte wird die Menschenwürde gern als Allzweckwaffe gehandhabt, mit der Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder therapeutisches Klonen in vermeintlich eindeutiger Weise mit dem Bannstrahl eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG belegt werden.[503] In der Sache dient die Menschenwürde hier als Einfallstor für bestimmte Partikularethiken und religiöse Grundüberzeugungen, die als solche Verfassungsrang nicht für sich beanspruchen können.
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Gewissermaßen noch eine Stufe höher angesiedelt wird die Norm, wenn man in ihr die „Gattungswürde“ oder sinngleich die Würde des Menschen als Gattungswesen verankert sieht.[504] Nicht mehr um den einzelnen Menschen, sondern die „Menschheit“ insgesamt soll es nun gehen. Mit der Übertragung dieser im ethisch-philosophischen Diskurs schon seit längerem verbreiteten Sichtweise auf das Verfassungsrecht hätte sich bei der Menschenwürdegarantie endgültig ihre Ablösung von einem konkreten personalen Träger vollzogen. Doch diese Wendung ins Kollektive und Überpersonale steht mit der Entstehungsgeschichte wie dem zentralen Zweck der Menschenwürde nicht in Einklang: danach bietet Art. 1 Abs. 1 GG konkreten Schutz für den konkreten Menschen, nicht für die biologische Gattung.[505]
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Gegenüber den hier nur stichwortartig genannten, im Grunde gegenläufigen Aufblähungs- und Überhöhungstendenzen erscheint es vorzugswürdig, die Menschenwürde weder dem Prozess einer „sinnverflachenden Inhaltsentleerung“[506] preiszugeben noch als „Auffangproblemlöser“[507] für hochkomplexe und epochale Entwicklungstendenzen nutzen zu wollen (und dabei doch nur den eigenen subjektiven Wertungen höhere Verfassungsweihen zu verleihen), sondern stattdessen einen engeren Kreis allgemein konsentierter Grundaussagen zu fixieren. Dieser Konsens betrifft drei fundamentale Aspekte: die Freiheit und Gleichheit der Menschen sowie ihre nackte Existenz.[508] Danach schützt die Menschenwürde als freiheitliches Prinzip erstens vor massiven Verletzungen der körperlichen und seelischen Integrität, vor Folter, Gehirnwäsche und schweren Demütigungen. Als egalitäres Prinzip schließt sie zweitens Sklaverei, Leibeigenschaft, Menschenhandel und andere Formen der Behandlung Dritter als „Untermenschen“ aus. Und drittens gewährt sie in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein materielles Existenzminimum (vgl. oben, Rn. 97). Man sollte diesen Konsens nicht kleinreden oder gering schätzen, sondern als keineswegs selbstverständliche zivilisatorische Errungenschaft begreifen. Wenn breitenwirksame Gefährdungen in dieser Hinsicht derzeit in unserer Rechtskultur kaum zu besorgen sind,[509] so ist dies kein triftiger Grund, sich nach anderen Einsatzfeldern für die Menschenwürde umzusehen und ihren hohen Rang durch inflationäre Entwertungstendenzen zu gefährden.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › IV. Abschließende Notiz zur nationalen Identität
IV. Abschließende Notiz zur nationalen Identität
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Die Bestimmung der nationalen Identität überschreitet im Grunde die Kernkompetenz des Verfassungsrechtlers und vermutlich auch die der Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen, weil insofern ein nur schwer auflösbares Konglomerat von (völker-)psychologischen, gesamtgesellschaftlichen, historischen wie kulturellen Phänomenen eine Rolle spielt.[510] Und doch kann man der Frage mit Blick auf den Europäischen Unionsvertrag (EUV) nicht einfach ausweichen. Wenn Art. 6 Abs. 3 EUV von der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten spricht, wird diese einerseits als bereits irgendwie gegeben bzw. vorgegeben vorausgesetzt; wenn Art. 6 Abs. 1 EUV die Union selbst auf die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet und ergänzend erklärt, dass diese allen Mitgliedstaaten gemeinsam seien, so sind andererseits schon gewichtige inhaltliche Vorgaben für sie markiert. Nun mag die nationale Identität in vielen Mitgliedstaaten an ganz andere Kristallisationspunkte anknüpfen als an die Prinzipien des Art. 6 Abs. 1 EUV oder deren Entsprechungen in den nationalen Verfassungen. In Deutschland hingegen ist es wegen der hier vorfindlichen (ebenso oft kritisierten wie positiv konnotierten) starken Fixierung von Politik und Gesellschaft auf das Grundgesetz als einem identitätsstiftenden Zentrum ganz naheliegend, in struktureller Analogie zur Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG (vgl. oben, Rn. 116) die nationale Identität in den zentralen verfassungsrechtlichen Verbürgungen zu suchen – vorzugsweise in jenen, die sich durch ihren fundamentalen, grundsätzlichen Charakter ebenso auszeichnen wie durch den hohen Bestandsschutz (vgl. oben, Rn. 28), den die Verfassung selbst diesen Bestimmungen verleiht. Auf diese Weise rücken die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG und die von ihm erfassten Regelungen in das Zentrum der Betrachtung. Es kann daher nicht überraschen, dass in der deutschen Kommentarliteratur zu Art. 6 Abs. 3 EUV auf die Verfassungsprinzipien (Republik, Sozialstaat, Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat) ebenso verwiesen wird wie auf die Grundrechte, die Menschenwürde und den Vorrang der Verfassung generell.[511] Und ebenso wenig überrascht es, dass der dem Thema „Die Identität der Verfassung“ im Handbuch des Staatsrechts gewidmete Beitrag in weiten Teilen im Grunde eine Kommentierung des Art. 79 Abs. 3 GG darstellt.[512] Was nun aber – die föderalen Aspekte einmal beiseitegelassen – wiederum hinter dieser zentralen Klausel und auch in manchen Aspekten des nicht minder wichtigen Konzeptes der „streitbaren Demokratie“ (vgl. oben, Rn. 29) steht, ist ein entschiedener Anti-Totalitarismus. Das Grundgesetz signalisiert damit seinen starken Geschichtsbezug und seinen dezidierten Willen, aus den schrecklichen Erfahrungen des Nationalsozialismus zu lernen (vgl. oben, Rn. 46ff.). Demgemäß hat man den Sinn des Art. 79 Abs. 3 GG darin gesehen, „einen Rückfall unseres Landes in Diktatur und Barbarei auszuschließen“[513]. Als deutsche Besonderheit und für die nationale Identität möglicherweise genauso bedeutsam dürfte schließlich der Sozialstaatsgedanke einzustufen sein.[514] Aufgrund langer Traditionen sozialer Fürsorge wäre in Deutschland eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik nach dem Muster der Thatcher-Ära in Großbritannien nicht nur rein tatsächlich unwahrscheinlich, sondern würde auch gegen ein weitverbreitetes Empfinden von